Unter dem Seil über dem Stau

Mobilitätslösungen, die auch in den nächsten Generationen noch wirken, haben Tradition, verlangen Mut und müssen manche Widerstände überwinden. Beispiele dafür sind die Flugversuche der Gebrüder Wright, der Bau von kathedralenhaften Bahnhöfen, die noch heute funktionsfähig sind, die berühmte erste Tour mit einer Motorkutsche von Bertha Benz oder der anspruchsvolle Ritt auf einem Hochrad. Seilbahnen gehören bislang kaum dazu. Zwar haben sie mit viel Aufwand – und mitunter zweifelhafter Wirkung – die Berge erobert, aber in der Alltagsmobilität spielen sie kaum eine Rolle. Dabei hätten sie das Potenzial dazu. Voraussetzung sind einige äußere Faktoren. Sind diese gegeben, können sie Zeichen setzen und das Leben verändern.

Vorbild La Paz

Ein aktuelles und eindrucksvolles Beispiel ist die Metropole La Paz, die bolivianische Hauptstadt. Einige Eckwerte: Die Stadt liegt auf 3.600 Metern Höhe in den Anden Südamerikas. Sie hat etwa 760.000 Einwohner. Sie ist zweigeteilt, denn auf dem Altiplano, weitere 600 Hö­ henmeter empor, liegt La Paz-El Alto, dort befindet sich auch der internationale Flughafen. Hier leben 850.000 Menschen. Dies markiert nicht nur eine Höhendifferenz, sondern auch krasse soziale Unterschiede. Die tiefer gelegenen Teile beherbergen in einigen Stadtregionen die gehobenen Wohnviertel, geschützt durch den Kessel. Die Höhe auf dem Altiplano-Plateau ist wesentlich deutlicher den Winden und der Kälte der Anden ausgesetzt.

Dort sind die deutlich ärmeren Wohnquartiere entstanden. Gleichzeitig lebt hier vor allem die indigene Bevölkerung.
Enge und Kessellage der Stadt führen oft zu für europäische Augen chaotischen Verkehrsverhältnissen. Sie werden durch Autos, Minibusse und Sammeltaxis geprägt, die sich auf vollen Straßen ihren Weg bahnen. Seit 2012 gibt es einen starken neuen Impuls. Auf Initiative der bolivianischen, mittlerweile indigen geprägten Regierung wurde mit dem Bau mehrerer Seilbahnlinien zwischen den tiefer und den höher gelegenen Stadtteilen begonnen. Nach nur 18 Monaten Bauzeit wurde Anfang 2014 die erste von sechs projektierten Verbindungen in Betrieb genommen. Im Jahresverlauf folgten zwei weitere Linien. Zusätzlich sind weitere drei Routen geplant, sodass ein komplettes Netz entsteht. Im Jahr 2020 soll es ausgebaut 23 Stationen und 20 Kilometer Streckenlänge umfassen. Der Bau wird von einem österreichischen Unternehmen mit Kompetenzen aus dem klassischen Seilbahnbau verantwortet. Voll in Funktion, könnten die Seilbahnlinien etwa 10 Prozent des städtischen Verkehrsaufkommens bewältigen.
Neben dieser Verkehrsleistung aus dem Blickwinkel des Verkehrsingenieurs birgt das Projekt auch für den Stadtsoziologen einen Fundus spannender Forschung. Die Seilbahnen überwinden nicht nur einen Höhen-, sondern auch den Klassenunterschied. So wird etwa der Weg in die Einkaufszentren, der vorher mühsam und mit anderen Verkehrsmitteln kostspieliger war, einfacher zugänglich. Mit dafür verantwortlich ist die Fahrpreispolitik. Der Ticketpreis für die neue Bahn liegt unterhalb der Preise für eine Mitfahrt in den bisher prägenden Minibussen. Seine Festlegung soll also Teilhabe durch Mobilität stärken sowie der ärmeren Bevölkerung mehr Unterwegssein und Freizügigkeit ermöglichen. Diese intendierte Wirkung wird jedoch langfristig möglicherweise durch andere Verwerfungen konterkariert. Die beschwerliche Höhe rückt durch die Seilbahnen näher. Genauso die wärmere und in vielen Aspekten angenehmere Tallage. Dies könnte die bisher klare Trennung zwischen Arm und Reich in den verschiedenen Stadtteilen auflösen – mit möglichen Verwerfungen und neuen Gewohnheiten in beiden Gruppen von oben nach unten. Es bleibt also eine Herausforderung.

Am Seil über den Rhein

Eine solche besteht unter ganz anderen Vorzeichen ebenfalls in dem im Vergleich zu La Paz sehr behüteten und beschaulichen Bonn am Rhein. Man darf staunen. Auch hier wird seit einiger Zeit ein vielleicht kühnes Verkehrsprojekt am Seil diskutiert, angestoßen durch die Suche nach Alternativen innerhalb des öffentlichen Verkehrs zu einem nicht immer vielversprechenden Ausbau des Straßen-, Tunnel- oder Brückennetzes. Hier könnte das Seil den Rhein überspannen und Kabinen in einer Rundtour von der auf Flusshöhe gelegenen Beueler Seite auf den gegenüberliegenden Venusberg führen. In Höhe, Umfang und Vision nicht vergleichbar mit dem Vorbild in Bolivien, aber mit Sicherheit ein guter Impuls, im Nahverkehr auf neuen Wegen unterwegs zu sein und Lösungen zu schaffen, für die uns zukünftige Generationen vielleicht dankbar sein werden.