Wenn Zeit zum Luxus wird
Ein Tag hat 24 Stunden. Das ist viel, möchte man meinen, wären da nicht die täglichen Verpflichtungen und Anforderungen im Berufs- und Arbeitsleben, in der Partnerschaft, im Familienleben, bei der Kindererziehung und -betreuung. Zeit kann dadurch zu einer sehr knappen Ressource werden. Vielleicht die knappste überhaupt, da sie unwiederbringlich verstreicht. Sie kann, gerade wenn man zu wenig davon hat, sehr wertvoll werden. Genügend Zeit zu haben oder sich einfach Zeit für etwas zu nehmen, nicht zuletzt für sich selbst, kann zu einem Luxus werden, den sich nicht jeder leisten kann.
Spending Time: Seine Zeit ausgeben
Daniel Hamermesh vom Royal Holloway der London University befasst sich in seinem Buch „Spending Time“ sprichwörtlich damit, für was Menschen ihre Zeit „ausgeben“. Dabei geht er von der grundsätzlichen These aus, dass in den letzten 50 Jahren die Einkommen und damit die Möglichkeiten, seine Freizeit zu verbringen, deutlich gestiegen sind – einzig die Zeit für all diese Möglichkeiten ist nicht mehr geworden.
Als Wirtschaftswissenschaftler interessiert sich Hamermesh auch zentral für die Opportunitäten, Arbeitszeit gegen Freizeit zu tauschen. An ihnen wird vielleicht am deutlichsten, wie wertvoll Zeit im monetären Sinn ist. Etwa bei der Gegenüberstellung, wie viel Geld ich pro Stunde verdienen kann bzw. nicht verdiene und wie viel Zeit mir bleibt, um es wieder auszugeben. Teenager haben möglicherweise viel Zeit, aber keine finanziellen Möglichkeiten, diese zu nutzen. Im späteren Erwerbsleben wünschen sich viele mehr (Frei-)Zeit, können es sich jedoch wiederum aufgrund sozialer und familiärer Verpflichtungen finanziell nicht leisten, auf Arbeitsstunden zu verzichten.
Mit der BAuA-Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Dortmund, werden seit Jahren die Arbeitszeitwünsche von Erwerbstätigen in Deutschland ermittelt. Rund die Hälfte von ihnen würde zuletzt gerne weniger Stunden pro Woche arbeiten. Jedoch kann sich bei Weitem nicht jeder Kürzungen leisten. Die hauptsächliche Ursache dafür ist finanzieller Art.
In der Rushhour des Lebens
Mit der Zeitknappheit, insbesondere bei erwerbstätigen Eltern, befassen sich auch Ralina Panova und Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden. Die von ihnen sogenannte „Rushhour im Familienzyklus“ betrifft besonders Eltern im Alter von 25 bis 40 Jahren, bei denen die Kombination von Beruf und Familie einen enormen Zeitdruck und eine hohe Arbeitsbelastung mit sich bringt. Diese ergibt sich aus den beruflich aufgewendeten Stunden sowie der Zeit für Hausarbeit und Kinderfürsorge.
Zeitbudgetstudien zeigen, dass die gesamte Arbeitszeit pro Woche bei Müttern mit Kindern unter drei Jahren im Durchschnitt bei 57 Stunden liegt (Deutscher Bundestag 2006). Entgegen der mancherorts geäußerten These, die Doppelbelastung sei ausschließlich den Müttern zuzuordnen, sind auch Väter mit Kleinkindern mit einer Gesamtarbeitszeit von 58 Stunden in gleich hohem Maße betroffen. Im Vergleich zu Kinderlosen liegt die Gesamtarbeitszeit bei Eltern durchschnittlich 3,6-mal höher.
Mit dem Älterwerden der Kinder lässt das Hausarbeitsvolumen zwar nach, eine deutliche Entlastung ist jedoch erst zu vermerken, wenn das jüngste Kind im Grundschulalter ist. Mit der erhöhten Arbeitsbelastung kommt noch ein weitere Besonderheit in der Familienphase mit Kindern dazu: das „Freie-ZeitVerhalten“. Die Grenzen zwischen freier Zeit für sich selbst und Fürsorgearbeit der Kinder sind fließend. Nach Michael Bittman von der University of New England in Australien und Judy Wajcman von der London School of Economics verbringen Eltern von Kindern im Alter von 0 bis 10 Jahren nur knapp die Hälfte ihrer sowieso geringen freien Zeit als Zeit für sich selbst. Die durchschnittliche Zeit, die sie für sich selber haben, liegt zwischen 3 und 10 Stunden. Das Freizeitvolumen von Kinderlosen umfasst dagegen 40 Stunden. Bittman und Wajcman kommen aber auch zu dem Ergebnis, dass die wenige Freizeit von Müttern zudem stärker fragmentiert ist, also häufiger unterbrochen wird als bei Vätern und dadurch mit noch weniger Erholung einhergeht.
Ist Zeit ein Luxus?
Zeit kann damit für Personen in bestimmten Lebensphasen eine knappe und wertvolle Ressource sein. Ist Zeit zu haben aber sogar ein Luxus? In der infas-Mehrthemenbefragung wurde danach gefragt, was Menschen persönlich unter Luxus verstehen. Ein Item, das es zu bewerten galt, war „freie Zeit für sich zu haben“. Rund 72 Prozent und damit der weit überwiegende Teil der Befragten bejahten das.
Trotz des allgemein hohen Niveaus an Zustimmung, lassen sich hinsichtlich des Alters Unterschiede erkennen. Passend zu den Annahmen der „Rushhour im Familienzyklus“ sind es insbesondere Personen im Alter zwischen 35 und 54 Jahren, die Zeit für sich als persönlichen Luxus empfinden. Bei Personen, die jünger als 35 Jahre sind oder 55 Jahre und älter, liegt diese Zustimmung dagegen niedriger.
Personen, die Vollzeit arbeiten, stimmen im Vergleich zu nicht oder nur gelegentlich Erwerbstätigen signifikant häufiger zu, dass freie Zeit für sich ein Luxus ist. Genauso verhält es sich mit Personen, die mit Kindern unter 14 Jahren im Haushalt leben.
Diese Befunde lassen sich auch in einer multivariaten Analyse bestätigen. Sie zeigt, dass im Vergleich zu der Altersgruppe der 35- bis unter 54-Jährigen sowohl jüngere Altersgruppen als auch Personen, die 55 Jahre und älter sind, signifikant seltener der Aussage zustimmen, Zeit für mich ist ein Luxus (Modell 1).
Aber wie verhält es sich mit den Hauptkonkurrenten um freie Zeit, beispielsweise der Arbeitszeit und der Kinderbetreuung? Personen, die Vollzeit arbeiten, stimmen im Vergleich zu nicht oder nur gelegentlich Erwerbstätigen ebenfalls signifikant häufiger zu, dass freie Zeit für sich ein Luxus ist. Genauso verhält es sich mit Personen, die mit Kindern unter 14 Jahren im Haushalt leben (beides Modell 2). Die altersspezifischen
Unterschiede aus Modell 1 lassen sich dabei aber nur zum Teil auf lebenslaufspezifische Unterschiede in der Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung zurückführen, da unter Kontrolle dieser Faktoren die altersspezifischen Unterschiede zwar schwächer werden, aber nicht verschwinden (Modell 3).
Daneben lässt sich über alle Modelle ein stark geschlechtsspezifischer Effekt beobachten, nach dem Frauen signifikant häufiger „Zeit für sich“ als Luxus empfinden als Männer. Dieser Effekt kann auf zusätzliche, hier nicht kontrollierte Verpflichtungen in privaten und sozialen Bereichen zurückzuführen sein, die im Alltag insbesondere auf Frauen und Mütter zurückfallen.
Ist Zeit eine Notwendigkeit und kein „Luxus“?
Die Ergebnisse der Mehrthemenbefragung sprechen dafür, dass es generell eine hohe Zustimmung bei der Bewertung von Zeit als Luxus gibt. Jedoch variiert sie in Abhängigkeit von der Lebenssituation. Dabei stellt sich die Frage, ob dieser Befund der Bedeutung von Zeit überhaupt gerecht wird. Ist Zeit für sich zu haben vielleicht sogar ein Notwendigkeit?
Chronisch keine Zeit zu haben, Stress und einer hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt zu sein und die fehlenden Möglichkeiten, abzuschalten zu können, sind mehr als ein Luxusproblem. Sie stellen ein gesundheitliches Risiko dar und machen auf Dauer krank. Dafür sprechen die Ergebnisse zahlreicher Studien der BAuA zu den Themen Stress, Erholung und Detachment.
Dieser Aspekt wird in den kommenden Jahren sicher an Bedeutung gewinnen. Denn die Corona-Pandemie könnte die Wahrnehmung von Zeit und deren Wert in Zukunft verändern. Im vergangenen Jahr haben viele Menschen während Lockdown- und Quarantänephasen sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dem Thema Zeit gemacht: Während manche auf einmal viel Zeit hatten, aber nichts mit ihr anfangen konnten, weil sie aufgrund der Quarantäneverordnung ihre Wohnungen nicht verlassen durften, haben andere wiederum zwischen Homeoffice und Homeschooling jede Form von privater Zeit verloren. Diese Erfahrungen könnten dazu führen, dass man seine Zeit in Zukunft als wertvoller wahrnehmen wird als bisher.
Dieser Beitrag ist in Lagemaß, Ausgabe 11 erschienen. Zum Magazin
Zum Weiterlesen:
BAuA (2020): Stressreport Deutschland 2019: Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
Bittman, M., Wajcman, J, (2000): The Rush Hour: The Character of Leisure Time and Gender Equitym, in Social Forces 79, S. 165-189.
Brauner, C., Wöhrmann, A. M. und Michel, A. (2018):BAuA-Arbeitszeitbefragung: Arbeitszeitwünsche von Beschäftigten in Deutschland. 1. Auflage. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
Bujard, M., Panova, R. (2016): Zwei Varianten der Rushhour des Lebens: Lebensentscheidungen bei
Akademiker/innen und Zeitbelastung bei Familien mit kleinen Kindern, in: Bevölkerungsforschung
Aktuell 1/2016: 11–20.
Hamermesh, D. S. (2019): Spending Time. The most valuable ressource. Oxford University Press. Oxford. Wendsche, J., Lohmann-Haislah, A. (2016):Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Detachment. 1. Auflage. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
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