65 Jahre infas: Eine Einordnung

I. Die Ausgangslage
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann das Unternehmertum in Deutschland in einem praktisch komplett zerstörten wirtschaftlichen Umfeld. Die deutsche Wirtschaft existierte nach den verheerenden Zerstörungen praktisch nicht, sodass ein Wiederaufbau bei null beginnen musste. Dies galt auch für die empirische Sozialforschung, die es während der Zeit des Nationalsozialismus praktisch nicht gegeben hat: Wichtige Sozialwissenschaftler flüchteten oder hatten Berufsverbot. Wissenschaftlich fundierte sozialwissenschaftliche Erhebungen gab es nicht, und das Interesse der Diktatur konzentrierte sich darauf, die Stimmung der Bevölkerung zu überwachen. Aus der Systematik der Überwachung ergaben sich zwar Informationen zur Stimmungslage der Bevölkerung, mit denen insbesondere die Propaganda gesteuert wurde. Sie lag in den Händen der Gestapo und SD („Berichte aus dem Reich“). Mit empirischer Sozialforschung hatte das allerdings nichts zu tun.

In den 1950er Jahren wurde die akademische Sozialforschung in Deutschland langsam wiederbelebt und ausgebaut. Institutionen wie das Institut für Sozialforschung in Frankfurt (Wiedereröffnung 1951), Infratest in München oder das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin spielten eine Schlüsselrolle dabei, das soziale und wirtschaftliche Leben in der jungen Demokratie wissenschaftlich zu analysieren. Hervorzuheben sind hier die Frankfurter Schule mit Denkern wie Theodor W. Adorno („Der autoritäre Charakter“, 1950 und „Erziehung nach Auschwitz“, 1966) und Max Horkheimer, die insbesondere die Ursachen für die nationalsozialistische Diktatur und die Funktionsweise totalitärer Regime analysierten, aber auch Sozialwissenschaftler wie Ralf Dahrendorf, der sich intensiv mit der Entwicklung und Stärkung eines pluralistischen demokratischen Systems auseinandersetzte („Homo Sociologicus“, 1958).

Eine empirische Wahl- und Einstellungsforschung gab es während der Weimarer Republik erst in Ansätzen und während der Zeit des Nationalsozialismus schon gar nicht. Es fehlte an den institutionellen und methodischen Grundlagen, die für eine systematische empirische Wahlforschung erforderlich sind. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Forschungslücke geschlossen. Der Beginn der empirischen Wahl- und Einstellungsforschung fiel mit dem Interesse der Alliierten zusammen, in ihren jeweiligen Sektoren Stimmungen und Einschätzungen der Bevölkerung systematisch zu analysieren. Damit begann die empirische Sozialforschung, Wählerverhalten und politische Einstellungen zu untersuchen, um besser zu verstehen, wie sich die Bevölkerung zu demokratischen Prozessen verhält. Diese Forschung unterstützte auch die demokratischen Parteien bei der Entwicklung von Programmen, die die Bedürfnisse der Bevölkerung besser adressierten. Interessanterweise waren Protagonisten dieser Entwicklung vor allem neugegründete, privatwirtschaftlich organisierte Institute wie das Institut für Demoskopie Allensbach, Emnid, DIWO und eben das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas). Heute würde man sagen, es handelte sich mit einigen Ausnahmen um Start-ups.

II. Die Anfänge
Auf die Frage „Wenn man eine Geschichte von infas schreiben wollte: Wann und wo würde man mit der Vorgeschichte beginnen?“ antwortete Wolfgang Hartenstein, einer der Gründer von infas, in einem Interview zum Anlass des 60-jährigen Jubiläums 2019: „Jedenfalls nicht in Deutschland. Der Start war wohl im Sommer 1953, als Klaus Liepelt und ich nach Amerika kamen. Wir kannten uns bereits aus den Anfangsjahren der Freien Universität Berlin […] und der Zufall wollte es, dass wir 1953 gleichzeitig als Fulbright-Stipendiaten in Amerika waren – er in Ann Arbor an der University of Michigan, ich in Stanford, wo heute das Silicon Valley ist. Und das war ein wissenschaftlicher Kulturschock. Beide kamen wir von der Geschichtswissenschaft und lernten hier plötzlich etwas kennen, was es in dieser Form in Deutschland überhaupt nicht gab, nämlich eine angewandte Sozialwissenschaft. Da ist mehr oder weniger die Vorstellung gereift, dass es so etwas auch in Deutschland geben müsste. Das gehörte hier eigentlich in die akademische Landschaft, die Universitäten waren auf dem Auge bisher ganz blind, Meinungsforschung gab es zwar schon bei mehreren Institutionen, aber die betrieben eigentlich nur Marktforschung.“

Die Gründer wählten 1959 den Namen „Institut für angewandte Sozialwissenschaft“ und in einem Brief (offenbar an potenzielle Auftraggeber gerichtet) hieß es dazu programmatisch: „Der Name des neuen Instituts deutet auf die enge Verbindung von Theorie und Praxis, von wissenschaftlich fundierter Analyse und sich daraus ergebenden konkreten Schlussfolgerungen hin. Wir glauben, dass auch in Deutschland in den letzten Jahren ein Bedürfnis nach einem Institut entstanden ist, das zwischen den auf ihren jeweiligen Gebieten spezialisierten akademischen Forschungsstätten und den kommerziellen Unternehmen eine Brücke schlägt.“

III. Der Verlauf
Im weiteren Verlauf agierte das Institut erfolgreich und wurde dem Anspruch gerecht, mit neuer Technologie sozialwissenschaftliche Fragestellungen aufzugreifen:

  • Es revolutionierte die Wahlberichterstattung mit eigenen Hochrechnungen auf Basis von echten Wahlergebnissen, die direkt nach Schließung der Wahllokale anhand einer Stichprobe erfragt, zentral gesammelt und mit einem Großrechner im Institut statistisch hochgerechnet wurden (1965). Diese Praxis ist heute noch Standard bei der Wahlberichterstattung.
  • Es wurde ein Modell der Wählerwanderungsbilanz entwickelt (1976), mit der Besonderheit, dass die objektiven Veränderungen des gesamten Wahlkörpers durch Todesfälle und Migrationsströme berücksichtigt wurden.
  • Zusammen mit dem Institut für Demoskopie Allensbach wurde die kontinuierliche Fernsehzuschauerforschung aufgebaut und erstmals etabliert.
  • Eine Verkehrsforschung als Alternative zu den damals üblichen Verkehrszählungen wurde etabliert und wegweisende Studien angefertigt. 1961 gab es die erste Verkehrsuntersuchung auf Basis von Befragungen in den Haushalten. Es fanden dafür Begehungen von kleinräumigen Einheiten (Gemeinden) statt, die dokumentierten, wo die Menschen wohnen, wie sie sich fortbewegen und wie ihr näheres Umfeld aussieht.
  • Zusätzlich war das Institut in der direkten politischen Beratung tätig, unter anderem bei der damaligen Diskussion um die Einführung des Mehrheitswahlrechts.

Die genannten Großprojekte prägten die Aktivitäten des Instituts und führten zu einem ansehnlichen Wachstum, das aber – rein betriebswirtschaftlich betrachtet – auch ein Klumpenrisiko beinhaltete. Das Projekt der kontinuierlichen Wahlberichterstattung wurde 25 Jahre durchgeführt und ist naturgemäß an den Zyklus der Wahlen gekoppelt, der eher wellenförmig verläuft. Als in den 1980er Jahren die Fernsehzuschauerforschung in einem Pitch verloren ging, kostete es das Institut einiges, dieses Loch aufzufüllen. Im Ergebnis war der Beginn der 1990er Jahre für infas eher eine schwierige Zeit. Es fand ein Eigentümerwechsel statt, mit dem der erfolgreiche Neubeginn allerdings nicht realisiert werden konnte.

IV. Der Neustart
In dieser Situation fasste eine Gruppe von sieben Mitarbeitenden den im Nachhinein als ziemlich verwegen einzuschätzenden Entschluss, das Institut zu übernehmen und den Neustart über einen Börsengang im Neuen Markt (1998) zu finanzieren. Die Idee war, sich zukünftig stärker auf die zitierten Ursprünge des Instituts, die „Sozial- und Verkehrsforschung“, zu konzentrieren und dabei radikal nur solche Projekte zu realisieren, die sich betriebswirtschaftlich rechnen, ein hohes methodisches Niveau erfordern und Wachstum auf mittlere Sicht garantieren.

Bei infas herrschte die Meinung vor, dass aufgrund des zu beobachtenden Preisverfalls in der Umfrageforschung und Demoskopie – der bereits in den 1990er Jahren begann – und aufgrund komplexer sozialer Situationen der Moderne, die Zeit reif sei für methodisch anspruchsvolle Projekte. Diese konnten (und wollten) die akademische Forschung und die öffentliche Hand gar nicht organisieren und umsetzen. Zusätzlich stand man am Übergang einer neuen technologischen Entwicklung, die dadurch geprägt war, dass telefonische Interviews machbar waren und bereits Ideen kursierten, Befragungen künftig auch über das Internet zu realisieren.

Dieser Fokus auf rentable und methodisch anspruchsvolle Projekte war erfolgreich und die seinerzeit von den Gründern postulierte Brücke zwischen der akademischen Forschung und dem privatwirtschaftlich organisierten Institut konnte ausgebaut und gefestigt werden. infas hat mit der Umsetzung des neuen Ansatzes jedes Jahr einen positiven Umsatzsprung und einen Gewinn zu verzeichnen. Konkret: Seit 2003 sind jährlich durchschnittlich 35 Prozent Wachstum zum jeweiligen Vorjahr erreicht worden. Im Jahr 2023 hat das Institut damit die Position Nr. 1 in Deutschland im Bereich Sozialforschung mit einem Umsatz von ca. 45 Millionen Euro erreicht.

V. Das Umfeld
In der Nachkriegsära versuchten die Institute – manchmal mehr recht als schlecht –, Zufallsstichproben zu realisieren. Im 1949 gegründeten Branchenverband, heute Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute (ADM), bildete sich schon früh eine Arbeitsgruppe zu „Random-Walk“. Sie debattierte über möglichst detailgenaue Zufallsstichproben für persönliche Interviews (1990 wurden 65 Prozent aller Interviews persönlich, 22 Prozent telefonisch und 13 Prozent schriftlich durchgeführt). In den 2000er Jahren wurde diskutiert, wie Zufallsstichproben mit Telefonnummern aus dem Festnetz in Kombination mit Mobilfunknummern zu konstruieren seien. Um das Jahr 2010 entstand daraus mit Unterstützung von infas der „Dual-Frame-Ansatz“ als Standard in der deutschen Markt- und Sozialforschung (bereits im Jahr 2000 wurden 41 Prozent der Interviews telefonisch und nur 34 Prozent persönlich durchgeführt).

Die Branche ist von Natur aus digitalaffin, und im Ergebnis wurden im Jahr 2023 rund 66 Prozent der etwa 23 Millionen realisierten quantitativen Interviews der Institute, die im ADM e.V. organisiert sind, online erhoben. „Online“ heißt in der Regel: Spezialisierte Unternehmen rekrutieren in großer Anzahl Personen, die gegen Entgelt bereit sind, Fragebögen digital auszufüllen. Für diese lohnt sich das finanziell erst, wenn sie an möglichst vielen Befragungen teilnehmen. Es bilden sich somit Personengruppen heraus, die zu „Berufs-Befragten“ werden. Online ist mittlerweile der beherrschende Erhebungsmodus (telefonische Interviews 2023: 15 Prozent, Face-to-Face-Interviews 11 Prozent). Seit den 1990er Jahren hat praktisch eine Umkehrung in der Erhebungsweise stattgefunden, die durchaus als digitale Disruption interpretiert werden kann.

Diese Entwicklung gilt allerdings zuallererst für die Marktforschung. In einigen Bereichen, insbesondere in der sozialwissenschaftlichen Forschung, nimmt die Erhebungsform „online“ als eine sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen Erhebungsmodi zwar auch zu. Die weiterhin bewährten Befragungen in Präsenz oder per Telefon bleiben aber notwendig, weil im digitalen Format komplexe Designs der Erhebung nur unvollständig umgesetzt werden können. Darüber hinaus arbeiten Sozialforscher mit zunehmend komplexeren Messkonzepten. Es finden nicht nur Befragungen, sondern auch Messungen zur Gesundheit und Kognition statt, die weit über reine Befragungen hinausgehen.

Mit den preiswerten Online-Interviews geht ein oftmals unbeachteter Aspekt einher, der für die Validität der Daten von großer Bedeutung ist: Die stichprobentheoretischen Voraussetzungen sind in der Regel intransparent und ungeklärt. Sie beruhen meist auf Quotenstichproben mit selbst rekrutierten Teilnehmern. Das wirft die Frage auf, ob Ergebnisse, die auf Basis von „non-probability samples“ entstehen, glaubhaft und präzise sind. Nach dem Stand der derzeitigen methodischen Diskussion ist die Antwort eindeutig: „Nein.“ Dabei geht es nicht um die Art der Erhebung, also online oder nicht, sondern um die Stichprobe, deren Qualität grundlegende Voraussetzung für hochwertige Studien ist.

Es ist unbestritten, dass Zufallsstichproben aufwendig und auch nicht für jede Fragestellung zielführend sind. Streng genommen sind sie nur dann sinnvoll, wenn Aussagen „hochgerechnet“ werden sollen, um verallgemeinert werden zu können. Dies ist in der Sozialforschung meist der Fall, sodass es bedenklich ist, wenn hier zunehmend auf „Online-Umfragen“ rekurriert wird, ohne sich der stichprobentheoretischen Voraussetzungen zu versichern. infas bietet hingegen seit einigen Jahren Online-Erhebungen auf Basis eines Access-Panels, dessen Teilnehmer offline, per Zufallsstichprobe, rekrutiert wurden.

VI. Die Expansion
Im Hinblick auf die Analyse gesellschaftlicher Probleme ist infas spätestens seit 1998 zunehmend mit Großprojekten zu wesentlichen Ausprägungen der sozialen Entwicklung Deutschlands sehr präsent. Besonders in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, in der Familien- und Seniorenforschung, der Forschung über die Ungleichheit in der Gesellschaft, der Gesundheitsvorsorge, Kriminalitätsforschung, Innovationsforschung und Mobilitätsforschung prägen die Ergebnisse der von infas durchgeführten Projekte den gesellschaftlichen Diskurs, sofern dieser evidenzbasiert stattfindet. Die Resultate gehen auch teilweise in die Gesetzgebung ein, ergänzen die amtliche Statistik oder sind Datenbasis für die wissenschaftliche Grundlagenforschung.

Die teils sehr aufwendigen Projekte, vielfach Längsschnittuntersuchungen (sog. Panels), werden angesichts der komplexen Anforderungen unter drei Bedingungen durchgeführt:

  • Es kommen nur Zufallsstichproben zum Einsatz.
  • Die Projekte sind so angelegt, dass sie multimodal durchgeführt werden, also jede Erhebungsweise (auch Online-Befragungen) zur Anwendung kommt.
  • Zunehmend kommen neben der Befragung als Messung erweiterte Messkonzepte zum Einsatz.

Dabei ist es der Anspruch, als Dienstleistungsunternehmen valide Informationen für den Erkenntnisfortschritt, den gesellschaftlichen Diskurs und als Basis für Entscheidungen in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zu beschaffen. Dies umfasst sowohl die Erhebung komplexer Primärdaten als auch die Beschaffung und Systematisierung allgemein zugänglicher Sekundärdaten, die dann lösungsorientiert für die Überprüfung von relevanten Hypothesen je nach Problemstellung auch zusammengeführt werden können. Die Seinsbestimmung des Instituts, neuerdings auch „Purpose“ genannt, ist es daher, einen Beitrag zu einem evidenzbasierten Diskurs, zur Lösung gesellschaftlicher sowie ausgewählter Probleme der Wirtschaft zu leisten. In diesem Sinne ist infas durchaus eine „evidence-making company“.

VII. Die Zukunft
Im 65. Jahr seiner Entstehung steht das infas Institut an der Schwelle zu einer weiteren interessanten Entwicklung, mit der Möglichkeit, die bisher erarbeiteten Kompetenzen zu internationalisieren. Es liegt ein Angebot des internationalen Forschungskonzerns Ipsos vor, die seinerzeit am Neuen Markt ausgegebenen Aktien von den bisherigen Aktionären (und Besitzern) des Instituts zu übernehmen. Im Falle, dass die Transaktion gelingt (Anm. d. Red.: Die Transaktion ist erfolgt, weitere Informationen dazu hier.), wird der Marktführer Deutschlands im Bereich Sozialforschung erworben und damit möglicherweise in den internationalen Forschungskontext eintreten.

Dieser Beitrag wurde zuerst in Lagemaß 14 „wählen“ veröffentlicht.