Riechen, Hören, Fühlen. Methodische Anmerkungen zur Erhebung für die „Vermächtnisstudie“ von ZEIT, WZB und infas

Vermächtnisstudie LogoSchon mehrfach hat die langjährige infas-Interviewerin versucht, eine ihrer Befragungspersonen persönlich zu Hause anzutreffen. Im Verlauf von 14 Tagen sucht sie die entsprechende Adresse, ein kleines Häuschen am Stadtrand einer norddeutschen Kleinstadt, nun schon zum dritten Mal auf. Sie ist immer wieder zu einem anderen Wochentag und stets zu anderen Uhrzeiten gekommen: einmal vormittags, einmal nachmittags und auch abends. Diesmal klappt es, der Gesprächstermin kommt endlich zustande. Der ältere Herr, 68 Jahre, hatte vorab schon einen Brief von infas erhalten, in dem die Studie vorgestellt wurde. Er weiß also, worum es geht und bittet die Interviewerin herein. „Danke, dass Sie die gut eineinhalb Stunden für unser Interviewgespräch heute zur Verfügung haben. Wollen wir gleich anfangen?“ Ein Kaffee wird angeboten – und los geht die Reise durch die insgesamt 135 Fragenbündel des Fragebogens der Vermächtnisstudie.

Was ist den Befragten in ihrem Leben besonders wichtig? Wie bewerten sie die aktuelle Lebenssituation in Deutschland? Was würden sie vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen anderen Menschen wünschen oder empfehlen? Wie soll Deutschland – aus der persönlichen Sicht der Befragten – in Zukunft aussehen? Das waren die zentralen Fragen der Vermächtnisstudie, verteilt auf verschiedene Themenbereiche des alltäglichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft: Wohnen, Lebensstil, Liebe, Ernährung und Gesundheit, Kommunikation und Technik, Arbeits- und Berufsleben sowie Besitz und Vermögen.
An der Befragung zur Vermächtnisstudie, welche die Wochenzeitung DIE ZEIT, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und das infas-Institut in Kooperation durchführten, nahmen zwischen Anfang Juli und Mitte Oktober 2015 insgesamt 3.104 zufällig ausgewählte Personen in der Bundesrepublik teil. Im Durchschnitt dauerte ein Interview 102 Minuten. Manches war kürzer, manches länger. Für die Befragten stellte das Interviewgespräch mit komplexen Themen und seinem zeitlichen Umfang eine gewisse Anforderung dar. Die gute Antwortbereitschaft führte indes zum Erfolg. Auf Basis eines repräsentativen Querschnitts der Bevölkerung entstand eine Sammlung wertvoller Informationen. Zudem konnten in dem Interviewgespräch der Vermächtnisstudie neue Messmethoden erprobt werden. Wie wurde das erreicht?

Der Fragebogen

Wie bei jeder sorgfältigen empirischen Erhebung galt auch für die Vermächtnisstudie: Ohne guten Fragebogen ist alles nichts. Der Fragebogen für die Vermächtnisstudie wurde in Kooperation mit Sozialwissenschaftlern und Journalisten entwickelt – eine für beide Seiten lehrreiche Erfahrung. Die Wissenschaftler von WZB und infas wirkten mit den Journalisten der ZEIT intensiv zusammen und entwarfen einen eigenen, ganz neuen Fragebogen. Dieser war das Resultat zahlreicher Fragebogenkonferenzen: Ping-Pong-Spiele guter Einfälle, kritische Gegenreden und überraschende Perspektiven begleitet vom ständigen Feilen an den exakten Formulierungen – so spielen sich Fragebogenkonferenzen ab. Gründliche Tests auf technische Handhabbarkeit sowie auf Verständlichkeit der Fragen (seitens der Befragten) wurden dann vor dem Feldeinsatz ebenfalls durchgeführt.

Die Erhebung

Die „Vermächtnisstudie“ wurde als CAPI-Befragung (Computer Assisted Personal Interview) durchgeführt. Ausnahmslos jedes Interviewgespräch fand persönlichmündlich statt. Alle 228 in der Studie tätigen Interviewer waren mit einem Laptop ausgerüstet, auf dem das Fragebogenprogramm hinterlegt war. Auch für die Stichprobe wurde die beste Methode gewählt. Es wurde eine Personenstichprobe aus Adressregistern zufällig ausgewählter Gemeinden erstellt. Die Grundgesamtheit bildete die in Privathaushalten der Bundesrepublik lebende Wohnbevölkerung im Alter zwischen 14 und 80 Jahren. Die bekannten Vorteile des Verfahrens wurden genutzt: Die Interviewer erhielten feste Kontaktdaten zur Bearbeitung. Ferner wurden alle ausgewählten Personen vor Befragungsstart angeschrieben und über die Studie informiert. Die Aufklärung über den Datenschutz erfolgte ebenfalls schriftlich. Neben einer studienspezifischen Schulung wurden auch ein Studienhandbuch sowie eine eigens hergestellte Materialausstattung für sensorische Messungen ausgegeben.

Die Ansprache der Sinne

Wie fühlt sich die Gegenwart an? Wie riecht die Zukunft? Die Erhebung der Vermächtnisstudie wendete sich solchen Fragen zu, indem allen Befragten während des Interviews Sinnesreize vorgelegt wurden. Durch den Einsatz kleiner Duftdosen zum Riechen, eines Fühlbeutels für eine haptische Messung sowie eines Moduls zum Vorspielen von Tonfolgen während des Interviewgesprächs wurden damit neue Wege im Rahmen einer CAPI-Erhebung beschritten.
Für die drei Sinne Riechen, Fühlen und Hören waren dazu im Vorfeld gezielte Stimuli systematisch ausgewählt worden. Die Reize mussten für die Befragten verständlich und alltäglich sein – und zudem auch gut voneinander unterscheidbar. Das Ziel dieses Verfahrens war es auch, den Befragten während des Interviews einen weiten Deutungsraum zu eröffnen. Die Leitfragen blieben auch hier: Was trifft das aktuelle Lebensgefühl? Welcher Sinneseindruck signalisiert, wie die Zukunft sein wird oder sein soll? Die Befragten äußerten beim Riechen Eindrücke zu vier Düften: Grapefruit, Rose, Heu und Leder. Sie hörten – mittels des vom Befragungsprogramm eingespielten Klaviertons – vier Rhythmen, die zwischen ruhig-gleichmäßig und schnell-unregelmäßig variierten. Und beim Fühlen betasteten sie vier charakteristische Oberflächen: Kunststoffglas, Stahlwolle, Plüschstoff und Wellpappe.
Bei der „haptischen Erhebung“ – dem Fühlen – übergaben die Interviewer einen Stoffbeutel mit einer schmalen Öffnung zum Hereingreifen und einer darin enthaltenen Pappplatte mit vier Fenstern, in die die vier verschiedenen Oberflächen eingelassen waren. Die Befragten konnten so in den Beutel greifen und sich ganz auf ihren Tastsinn konzentrieren, ohne dabei durch optische Reize abgelenkt zu werden. Die Reihenfolge war durch Buchstaben auf dem Beutel vorgegeben. Die Befragten erhielten die Eindrücke so in stets gleicher Weise. Die Sinnesreize sollten vor allem auch dazu anregen, Empfindungen und Meinungen mitzuteilen, die man mit rein sprachlichen Stimuli in dieser Weise wohl nicht erhalten hätte. In dieser – man könnte sagen – semantischen Erweiterung lag der methodische Gewinn. Auf entsprechende offene Nachfragen kamen Ausführungen, die durchaus breiter und „farbiger“ waren, als Antworten auf offene Fragen (im Rahmen standardisierter Interviews) dies gemeinhin sind. Im Kontext der übrigen Informationen aus der Befragung ließen sich die so ermittelten Einschätzungen, Befürchtungen und Hoffnungen der Befragten dann gut einordnen und trugen zum besseren Verständnis ihrer Auffassungen bei. Die Materialien für die Sinnesmessungen mussten unter nicht unerheblichem Aufwand produziert werden. Dies betraf beispielsweise die Herstellung der Haptikplatten für die Fühlmessung. Schon bei der Materialbeschaffung und -bearbeitung stand man vor Herausforderungen, die im sozialwissenschaftlichen Bereich nicht gerade alltäglich sind. Mit welchem Werkzeug lassen sich Kunststoffglas und Stahlwolle sauber zuschneiden? Und welcher Kleber haftet gut an allen Materialien – ohne dabei gleichzeitig die Pappfassung aufzulösen?

Dosen mit Duftgels
Sinnesreize für die Nase: Duftgels mit Grapefruit, Rose, Heu und Leder
Haptikplatte
CAPI-Erhebungsmaterialien der neuen Art: im Beutel verdeckt vorgelegte Haptikplatte zum Befühlen durch die Befragten mit vier Fühlflächen: Kunststoffglas, Stahlwolle, Plüschstoff und Wellpappe.

Nachdem das Design des Instruments (mit dem Ziel der Feldfähigkeit im Zusammenspiel mit einem CAPI-Interview) bei infas entwickelt worden war und zahlreiche Probleme gelöst waren, wurden schließlich 250 Haptikplatten im Heilpädagogischen Zentrum Erftstadt-Lechenich (HPZ RheinErft), einer Behindertenwerkstatt im Heilpädagogischen Netz des Landschaftsverbands Rheinland, in minutiöser Handarbeit perfekt gefertigt.

Beutel mit verdeckter Haptikplatte
Im Beutel verdeckt vorgelegte Haptikplatte

Spezifische Anforderungen gab es auch in der Erhebung. Der verschlossene Beutel mit der Fühlplatte musste sichtbar und für die Befragten in Griffweite auf den Tisch gelegt werden. Bevor mit dem Fühlen begonnen werden konnte, war es aus hygienischen Gründen notwendig, dass sich die Befragungspersonen ihre Hände mit einem dafür vorgesehenen Desinfektionstuch reinigten. Die Akzeptanz der Befragten für die – immer wieder auch als „Experiment“ oder „Spielerei“ bezeichneten – Messungen war indes von Anfang an gut und blieb stabil hoch: An der Geruchs- und Fühlmessung nahmen jeweils 95 Prozent der befragten Personen teil, am Rhythmusmodul 90 Prozent.

Ein breites Datenfundament

Wie für Umfragen in der Bundesrepublik kennzeichnend so waren auch bei der Vermächtnisstudie besser gebildete Personen leicht über-, weniger gebildete Personen hingegen etwas unterrepräsentiert. Allerdings war die Größenordnung dieses Phänomens, in der Fachwelt als Bildungsbias bekannt, im Vergleich gering. Mit der Erhebung zur Vermächtnisstudie wurde ein reichhaltiger Datenbestand erzielt. Ein breites Fundament für neue Perspektiven auf die Gesellschaft von heute und morgen. Kein Polaroidfoto, vielmehr eine Röntgenaufnahme zu Befindlichkeiten, Wünschen und Sorgen der Bevölkerung. Unter exakter statistischer Überprüfung sind dabei alle Altersgruppen, sozialen Schichten und Wohnregionen repräsentiert