Eine Zuschauerdemokratie hilft uns nicht

Professor Dr. Ulrich Eith im Interview mit Axel Glemser.

Zur Person:
Professor Dr. Ulrich Eith lehrt am Seminar für Wissenschaftliche Politik an der Universität Freiburg. Er ist zudem Geschäftsführer der Arbeitsgruppe Wahlen und Direktor des Studienhaus Wiesneck, Institut für politische Bildung Baden-Württemberg e.V. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem der Vergleich politischer Systeme und Entscheidungsprozesse, politische Soziologie, kommunale Politikgestaltung im internationalen Vergleich und die Regional- und Landespolitik. Nach einem Studium der Politikwissenschaft und Mathematik promovierte und habilitierte er in Politikwissenschaft.

Wir wollen uns mit den Ergebnissen der Europawahl auseinandersetzen, Faktoren und Gründe für das Wahlverhalten erörtern und uns auch mit den Landtagswahlen befassen. Herr Eith, sehen Sie die Ergebnisse der diesjährigen Europawahl in Deutschland als Besonderheit, gab es Überraschendes für Sie oder entspricht sie mehr oder minder Ihren Erwartungen?

Heutzutage ist die Meinungsforschung so gut aufgestellt, dass man die Ergebnisse ja schon vorab einigermaßen gesichert zur Kenntnis nehmen kann. Somit gibt es an den Wahlabenden in der Regel keine allzu großen Überraschungen, was das Ergebnis angeht. 2024 ist aus meiner Sicht dennoch ein besonderes Wahljahr, da wir es mit deutlichen Zugewinnen zweier populistischer Parteien und den daraus resultierenden Konsequenzen zu tun haben. Landespolitisch erleben wir die Geburtswehen bislang völlig neuer Koalitionskonstellationen. Und bundespolitisch haben die Wahlergebnisse die Ampelkoalitionäre weiter in die Krise geführt. Nur wenig hält die drei Regierungsparteien aktuell noch zusammen. Allerdings fanden die Landtagswahlen auch genau in den Bundesländern statt, in denen die beiden populistischen Parteien derzeit besonders gute Ergebnisse erzielen können. Es hätte sich ein etwas anderes, differenzierteres Bild ergeben, wenn wir statt dreier Landtagswahlen in Folge im Osten auch noch zwei Landtagswahlen in Westdeutschland gehabt hätten, etwa in Nordrhein-Westfalen oder in Baden-Württemberg.

Wie bewerten Sie denn den Aufstieg dieser populistischen Kräfte der AfD und des Bündnis Sahra Wagenknecht? Was sind die Gründe dafür?

Da erscheint es mir sinnvoll, zunächst den aktuellen Resonanzboden für diese Erfolge auszuleuchten. Was wir derzeit erleben, ist eine Häufung von Krisen und wahrgenommenen Verunsicherungen, die von nicht wenigen Menschen als gewaltige Bedrohung ihrer eigenen Situation gewertet werden. Das sehen wir an den pessimistischen Zukunftserwartungen in den Umfragen. Zugespitzt lässt sich die aktuelle Krisensituation in drei Punkten verdeutlichen. Erstens, es ist heute nicht mehr so sicher wie noch vor ein paar Jahren, dass wir dauerhaft in Frieden leben werden. Die Kriege sind nähergekommen, die Rüstungsausgaben steigen. Zweitens verändern sich gerade unsere Lebensumstände in einer Geschwindigkeit und in einem Ausmaß, das bis vor wenigen Jahren ebenfalls kaum jemand für möglich gehalten hätte. Unser Wohlstand und unser gewohnter Lebensstil stehen etwa durch die Digitalisierung, den globalen Klimawandel, die Energiewende und nicht zuletzt auch durch die Folgen des Generationenwandels ernsthaft infrage. Und drittens gibt es keine Garantie dafür, dass wir auf Dauer in stabilen demokratischen Verhältnissen leben können. Ein Blick in die Staaten der Europäischen Union oder auch in die USA verdeutlicht, dass Populisten auch in bislang gefestigten Demokratien vielerorts enorme Stimmengewinne erzielen und bereits in mehreren Regierungen vertreten sind. Damit einher geht dann fast immer Schritt für Schritt der Abbau der Unabhängigkeit der Justiz, die Einschränkung der freien Medien sowie die Stigmatisierung gesellschaftlicher Minderheiten, die nicht einem konservativ-traditionellen Rollen- und Familienbild entsprechen. Immer klarer wird, man kann Demokratie auch schrittweise wieder verlieren.

Verstehe. Wie geht das vor sich?

Nun reagieren die Menschen individuell sehr unterschiedlich auf die Wahrnehmung dieser Ballung von Herausforderungen, insbesondere auch mit Blick auf die von ihnen wahrgenommenen Problemlösungskompetenzen der Regierung. Viele können gut mit neuen Situationen umgehen, manche erleben diese Problemhäufung sogar als Herausforderung, praktikable Lösungen zu finden. Andere hingegen fühlen sich durch die Vielzahl der Problemkonstellationen überfordert, verfallen in Resignation und beklagen einen umfassenden Kontroll- und Orientierungsverlust. Wieder andere machen hierfür vehement die Politik verantwortlich, die sich aus ihrer Sicht nicht schnell und effektiv genug um die notwendigen Problemlösungen kümmere. Bei allen individuellen Unterschieden, der Anteil von Menschen mit eher pessimistischen Zukunftserwartungen und großem Unmut über die Regierung ist allen Umfragen zufolge stark angestiegen. Und das hat Konsequenzen.
Viele Studien belegen es immer wieder: Wenn Menschen ihre wirtschaftliche Situation als gefährdet und/oder ihre kulturelle Identität als bedroht wahrnehmen, wenn zudem auch die lokale Infrastruktur immer schwächer wird, dann führt das zu politischer Unzufriedenheit und Frustration. Und bei einem Teil der Bevölkerung steigt dann die Bereitschaft, populistische Problemdeutungen und die damit verbundenen Sündenbock-Erzählungen zu übernehmen. Die Reduzierung komplexer Sachverhalte auf überschaubare Schwarz-Weiß-Bilder mit vermeintlich einfachen Lösungen suggeriert die Rückgewinnung von Kontrolle, Orientierung und Verhaltenssicherheit. Es ist daher das Geschäftsmodell von Rechtspopulisten auch weit über Deutschland hinaus, Frustrationen, Unsicherheiten und Krisen zu verstärken, der liberalen Demokratie Staatsversagen vorzuwerfen und den Parteien einen vollständigen Kontrollverlust zu attestieren. Die an der Universität Bielefeld regelmäßig durchgeführten „Mitte-Studien“ haben immer wieder verdeutlicht, wie sehr die individuelle Wahrnehmung von wirtschaftlichen und/oder kulturellen Bedrohungen die eigene Offenheit für Verhaltensänderungen einschränkt und den Blick für eine realitätsgerechte, komplexe Wahrnehmung von Problemen verengt. Zugespitzt formuliert, wer sich massiv unter Druck sieht, hält eher am Bewährten fest.

Heißt das, dass die etablierten Parteien zu komplizierte Antworten geben? Müssten sie einfacher argumentieren?

Die aktuellen Problemlagen – etwa die Zuwanderung, der Überfall Russlands auf die Ukraine und das Thema Friedenssicherung oder auch der Klimawandel – sind allesamt politisch komplex, zugleich für viele Menschen auch beunruhigend und mobilisierend. Demokratien haben hierfür keine einfachen Antworten und keine schnellen Lösungen. Anders als autoritäre Systeme sind Demokratien an die zeitintensive, mühsame Kompromisssuche für Mehrheitsentscheidungen gebunden. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Ampelkoalitionäre im Bund aktuell vor allem durch Streit und weniger durch effektive Problemlösungen auffallen.

Das heißt, der Kompromiss als Instrument der politischen Willensbildung wird gar nicht positiv wahrgenommen, sondern als zu langsam und nicht mehr adäquat?

Das gilt keineswegs für alle Menschen. Immerhin garantieren allein die Demokratien individuelle Freiheitsrechte und pluralistische Entwicklungsmöglichkeiten, aber das hat eben in Sachen Mehrheitsbildung auch seinen Preis. Andererseits akzeptiert eine zunehmende Anzahl von Menschen offenbar die Einschränkung von Freiheitsrechten und die autoritären Zumutungen einer gelenkten Demokratie, was man nicht nur am Beispiel von Ungarn sehen kann. Und natürlich kommen demokratische Verfahrensweisen und Institutionen massiv auch dadurch unter Druck, dass ein abgewählter amerikanischer Präsident seine Niederlage schlichtweg nicht anerkennt und dies auch seinen eigenen Anhängern so vermitteln kann.

„Die Regierung habe die Kontrolle darüber verloren, was in diesem Land passiert, die importierte Kriminalität steige ins Unermessliche. Diese schlichte Melodie verfängt, ist inzwischen ja sogar von der demokratischen Opposition zu hören.”

Steffen Mau spricht in seinem Buch „Triggerpunkt“ davon, dass die politische Landschaft in Deutschland in verschiedene Konflikte zerküftet sei. Sie haben ein paar aufgegriffen: Krieg versus Frieden, Bevölkerungsdynamik, Migration und Zuwanderung zerren möglicherweise in die eine Richtung, Lebensführungs- und Klimafragen in die andere. Warum schaffen es die Parteien nicht, Themen wie das Klima wieder stärker zu akzentuieren? Liegt es nur am fehlenden Einigungswillen der Regierung?

Die Parteien reagieren sehr stark – vielleicht zu stark – auf die gemessenen Stimmungslagen bei Bürgerinnen und Bürgern. Das Thema Klimaschutz ist ein gutes Beispiel, um zu sehen, wie mehrere Faktoren zusammenwirken. In der Rangfolge der als wichtig angesehenen Themen steht der Klimaschutz schon länger nicht mehr auf Platz 1. Dort finden wir Themen, die für viele Menschen ein viel kurzfristigeres Bedrohungspotenzial beinhalten, je nach Umfrage und Zeitpunkt der Erhebung etwa Asyl und Zuwanderung, die Wirtschaftslage oder auch die Friedenssicherung. Die Auswirkungen des Klimawandels stellen dem gegenüber für viele erst längerfristig eine Gefahr dar. Fast alle Parteien überbieten sich daher derzeit mit Vorschlägen, die Zuwanderung effektiv zu regulieren. Ein Zweites kommt hinzu. Nahezu jedem ist klar, dass ein effektiver Klimaschutz für alle mit realen Konsequenzen und auch Kosten verbunden ist, etwa durch Änderungen des eigenen Lebensstils oder die Umrüstung auf eine klimaneutrale Energie- und Heiztechnik. Da wirkt die von Populisten vehement vorgetragene These, ein menschengemachter Klimawandel existiere nicht, moralisch entlastend und ökonomisch zudem weitaus attraktiver. Und nicht zuletzt eröffnet drittens die Wahrnehmung eines Teils der Bevölkerung, dass sich im Moment zu viel zu schnell ändere, den Populisten weitere Chancen auf Zustimmung. Deren Standardantwort lautet: Wir wollen am Bestehenden festhalten oder möglichst sogar die früheren, besseren Zeiten wieder reetablieren. Auf den Klimawandel bezogen: Seine Leugnung führt zu dem Schluss, dass man den – als dirigistisch bezeichneten – „Öko-Aktivismus“ der Regierung schnellstmöglich beenden muss. Da sind sich das Bündnis Sahra Wagenknecht und die AfD einig. Weil sich durch Nichtstun die Klimaprobleme nun allerdings auch nicht lösen, sondern erkennbar noch vergrößern, konstatieren Populisten der Regierung zugleich auch einen Kontrollverlust. Der Slogan der Brexit-Bewegung in England war „Take Back Control“ – und nicht nur die österreichischen Rechtspopulisten werben durchgängig mit dem Versprechen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Anschaulich auf den Punkt gebracht wird das zum Beispiel mit der Ablehnung von offenen Grenzen. Die Regierung habe die Kontrolle darüber verloren, was in diesem Land passiert, die importierte Kriminalität steige ins Unermessliche. Und diese schlichte Melodie verfängt, ist inzwischen ja sogar von der demokratischen Opposition zu hören.

Auch Trump hat mit „Make America Great Again“ diese Retrospektive in seinen Slogans. Das heißt ja, wir haben ein Wählerpotenzial das, höflich formuliert, auf ein überwiegend konservativ orientiertes Weltbild setzt. Müssten da nicht Parteien der Union ein stärkeres Potenzial haben? Sie stehen zwar im Vergleich zu den Ampelparteien gut da, aber wäre nicht mehr drin?

Das sehe ich ähnlich. Die Union profitiert zwar, aber eigentlich sollte für sie mehr drin sein. In Westdeutschland haben populistische Parteien ein Potenzial von bis zu 20 Prozent. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen haben das BSW und die AfD zusammen deutlich über 40 Prozent erreicht. Da müsste eigentlich die demokratische Opposition weit stärker als bislang profitieren. Sicherlich haben wir im Osten besondere Bedingungen, aber es ist gleichwohl ein Irrglaube, dass es dort grundsätzlich andere Faktoren des Wählerverhaltens gäbe. Vielmehr ist dort aus verschiedenen Gründen die Problemballung nochmals konzentrierter und die Enttäuschung über die Bundespolitik größer. Überdies zeigt ein Blick auf das wirtschaftlich mit am besten dastehende Bundesland Baden-Württemberg, dass eben nicht die objektive Wirtschaftslage, sondern die individuell erwartete Zukunftsperspektive ein entscheidender Faktor ist. In Baden-Württemberg hat die AfD in der ersten Runde der Landtagswahlen verglichen mit allen westdeutschen Bundesländern das beste Ergebnis erzielt. Insofern ist das Argument, es gäbe einen besonderen Ost-Faktor, zu relativieren. Wir haben im Westen die gleichen Problemkonstellationen, allerdings weniger intensiv ausgeprägt und mit einem geringeren Zuspruch als im Osten für populistische Parteien.

Also die Mechanik und Logik sind in West und Ost gleich, aber die Schärfe, mit der sie zutage treten, unterscheidet sich. Woran liegt es denn, dass im Osten die Wähler stärker auf solche Dinge ansprechen?

Die DDR haben die allermeisten Ostdeutschen mit Fug und Recht als autoritäre Fürsorgediktatur erlebt und die Zeit nach der friedlichen Revolution vor allem als nahezu voll ständige Umbruchssituation. Manche Muster sind aber offensichtlich erhalten geblieben. Es gibt eine Reihe von Menschen, die etwa den Zerfall der Infrastrukturen im ländlichen Raum als direktes Staatsversagen wahrnehmen und auch so adressieren. Es gibt dafür aber auch wichtige gesellschaftliche Faktoren. Wir verzeichnen im Osten seit der Einheit eine massive Abwanderung und einen Bevölkerungs schwund in den ländlichen Regionen. Das führt zu empfindlichen Einschränkungen, etwa beim öffentlichen Nahverkehr, bei der medizinischen Versorgung und bei der Bereitstellung von wohnnahen Schul- und Krippenplätzen. Die selben Schwierigkeiten haben wir auch in Westdeutschland, allerdings auf noch niedrigerem Niveau. Da brauche ich nur das kleinstädtisch-ländlich strukturierte Baden-Württemberg nennen, wo ich wohne…

…aber der Umgang der Bevölkerung oder die Erwartungshaltung ist eine andere, als Sie gesagt haben. Liegt es jetzt nur an der Mentalität aus der DDR? Wir haben ja mittlerweile eine Generation, die die DDR gar nicht mehr praktisch miterlebt hat. Aber gleichwohl scheint diese Haltung verbreitet zu sein.

Nach der deutschen Einheit sind zunächst sehr viele junge Menschen Richtung Westen abgewandert, insbesondere junge Frauen und gut ausgebildete junge Männer. Heute haben wir in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands eine viel stärkere Überalterung als in vergleichbaren westdeutschen Gegenden und einen großen Überhang junger Männer. Und die Entwicklung ist ja nicht abgeschlossen. Zudem haben wir im Osten eine viel geringere Tradition des zivilgesellschaftlichen Engagements und eine geringere Bereitschaft, sich in größeren Organisationen zu engagieren, ob das jetzt Kirchen, Gewerkschaften oder auch Parteien sind. Gerade die zunächst „westdeutschen“ demokratischen Parteien haben bis heute nicht das Personal, um flächendeckend präsent zu sein. Nach der deutschen Einheit galt zunächst die PDS als „Kümmer-Partei“, das haben dann in einigen Regionen Ostdeutschlands – eher im ländlichen Raum mit deutlichem Überschuss junger Männer – Rechtspopulisten und teilweise auch die NPD übernommen. All dies sind Aspekte, die sehr viel deutlicher in Ostdeutschland eine Rolle spielen, in der Tendenz aber auch in westdeutschen Bundesländern zu beobachten sind.

Das heißt aber, mit dem Zusammenbruch des SED-Regimes ist auch ein Vakuum im zivilgesellschaftlichen Bereich im politischen Vorfeld entstanden, das rechtspopulistische Strömungen gezielt ausgenutzt haben?

Das kann man schon so sehen. Aber wer das als den zentralen Grund für den Aufschwung von Rechtspopulisten ansieht, der übersieht, dass wir in Westdeutschland diesen Aufschwung ebenfalls registrieren – auch in ökonomisch sehr gut dastehenden Regionen wie Baden-Württemberg. Wer etwas hat, kann auch Angst haben, etwas zu verlieren.

Wo sehen Sie speziell für Baden-Württemberg den Grund? Warum ist hier als westliches Bundesland ein Spitzenwert für die AfD zustande gekommen?

Baden-Württemberg hat viel Erfahrung mit Parteien am äußersten rechten Rand. 1968 gelangte die NPD mit 9,8 % der Stimmen in den Stuttgarter Landtag, von 1992 bis 2001 folgten in ähnlicher Größenordnung die Republikaner, seit 2016 hält die AfD Landtagsmandate. Zum besseren Verständnis hilft ein Blick auf die zentralen strukturellen Voraussetzungen des Parteiensystems im Südwesten. Bedeutend sind die kleinstädtisch-ländlich geprägte Siedlungsform sowie die konfessionell herausgebildeten, regionalen Gegensätze. Bis heute gibt es in Baden-Württemberg nur vier Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern und weitere fünf mit über 100.000 Einwohnern. Gleichzeitig ist Baden-Württemberg führend in der industriellen Produktion mit vielen Hidden Champions und flächendeckend bis in nahezu jedes Tal hinein industrialisiert. Aber anders als etwa im Ruhrgebiet oder im Saarland führte die schnelle Ausdifferenzierung des produzierenden Sektors im Südwesten nicht zur Herausbildung größerer städtischer Industriezentren und einer Industriearbeiterschaft mit eigenständigen Milieustrukturen. Große Teile auch der Industriearbeiterschaft im Südwesten blieben in ihren traditionellen Lebensumständen verankert. Die Parteien der Arbeiterbewegung hatten so von Beginn an schlechte Ausgangsbedingungen, profitieren konnten hingegen die bürgerlichen Parteien, ab den 1980er Jahren – besonders in den Universitätsstädten – die realpolitisch aufgestellten Grünen sowie in Regionen mit stagnierender Produktion immer wieder auch rechte Protestparteien.
Hinzu kommt als zweiter Faktor die besondere konfessionelle Aufteilung in Baden-Württemberg. Im Grenz- und Durchgangsland Baden entlang des Rheins herrscht trotz konfessioneller Unterschiede eine weitgehend aufgeschlossene Geisteshaltung vor, weit verbreitet ist die tolerante Einstellung „leben und leben lassen“. Der im Nordschwarzwald und in Württemberg weit hin verbreitete, teils rigide protestantische Pietismus mit seiner Prädestinationslehre hingegen hat die Herausbildung solch sprichwörtlich schwäbischer Tugenden wie Fleiß, Selbstdisziplin und Erfindungsreichtum befördert, geht aber auch einher mit einer hohen sozialen Kontrolle, einer gewissen Risikoscheue, einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Institutionen sowie häufig auch gesinnungsethischen Einstellungen. Die dort über Jahrhunderte religiös eingeübte Unterscheidung von „richtiger“ und „falscher“ Lebensführung hat durch kulturelle Diffusion Spuren in der politischen Kultur hinterlassen. Deutlich wird das etwa im dort stets überdurchschnittlichen Abschneiden rechts-populistischer Parteien oder auch in der Entstehungsgeschichte der baden-württembergischen Querdenkerszene während der Corona-Pandemie.

Was können wir aus diesen spezifischen Bedingungen in Baden-Württemberg generell oder für die östlichen Bundesländer ableiten? Denn sowohl die NPD als auch die Republikaner sind irgendwann auch wieder aus den Parlamenten heraus gefallen. Ist das dann nur ein Indikator für die Abschwächung der Krise oder ist es auch mit dem Handeln der politischen Akteure zu erklären?

Die Situation ist sicherlich nicht mit heute vergleichbar, denn die Themen, die seinerzeit die NPD und später auch die Republikaner erfolgreich werden ließen, sind andere und zudem von begrenzterem Ausmaß gewesen. Grundsätzlich aber gilt für früher wie für heute, dass die Politik die jeweils anstehenden Probleme erkennbar und effektiv angehen muss. Die Themen, die heute als bedrohlich wahrgenommen werden, verschwinden nicht einfach von selbst. Vielmehr müssen wir uns damit arrangieren, dass sich unsere Lebensumstände und Lebensstile zum Teil ändern werden, etwa mit Blick auf den Klimawandel, den Zuzug dringend benötigter Arbeitskräfte aus dem Ausland oder auch einen größeren Beitrag zur militärischen Abschreckung und Verteidigung.Hier ist natürlich zunächst die Politik in der Pflicht, praktikable Lösungsvorschläge zu liefern – durchaus in Alternativen, je nach politischer Richtung. Und praktikabel heißt in diesem Fall, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen fachlich erfolgversprechend, zudem sozialverträglich und auch kommunizier- und vermittelbar sind. Trotz aller krisenhaften Zuspitzungen brauchen die Menschen und auch die Wirtschaft ein gewisses Maß an Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Ob mit oder ohne rigider Schuldenbremse, mit mehr oder weniger sozialpolitischem Ausgleich – all das sind Fragen, die letztlich auch bei Wahlen mit Mehrheiten zu entscheiden sind. Nur so kann die Politik auch den Vorwurf des Kontrollverlustes von populistischer Seite glaubhaft entkräften.Unabhängig davon, ob man politisch der derzeitigem Regierung nahe steht oder nicht, nach meinem Eindruck sind wir – nüchtern betrachtet – bislang ganz ordentlich durch die Krisen gekommen. Weder musste im Winter jemand aufgrund von Gas-Mangel frieren, noch sind wir in kriegerische Auseinandersetzungen hineingezogen worden. Aber die Kommunikation über das Regierungshandeln ist dramatisch schlecht. Das öffentliche Bild ist: Der Kanzler schweigt, die FDP bedient eher die Oppositions- als die Regierungsrolle, und die Parteien verzetteln sich im Streit untereinander. Das ist Wasser auf die Mühlen aller Populisten.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass wir geeignete Formate brauchen, damit Bürgerinnen und Bürger sich vermehrt mit politischen Fragestellungen auseinandersetzen. Demokratie bedeutet Wettstreit der besten Alternativen um Mehrheiten. Stabile Demokratien benötigen eine von gegenseitigem Respekt getragene Diskurskultur, das argumentative Streiten um die besten Lösungen. Eine erfolgversprechende Maßnahme, um als Bürgerin und Bürger politisches Streiten produktiv zu erleben, sind aus meiner Sicht die neueren Formate der konsultativ-dialogischen Bürgerbeteiligung, also Bürgerforen, Bürgerräte oder auch Bürgerwerkstätten. Die vorliegenden Evaluierungen dieser Formate unterstreichen einstimmig deren demokratiestabilisierende Effekte.

„Demokratie bedeutet Wettstreit der besten Alternativen um Mehrheiten. Stabile Demokratien benötigen eine von gegenseitigem Respekt getragene Diskurskultur, das argumentative Streiten um die besten Lösungen.”

Wobei es mit Sicherheit auch nicht ganz einfach ist, in Bürgerforen Beteiligungen in der Breite zu erzielen, weil auch das ja ein gewisses Engagement-Level voraussetzt, was nicht in allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen voraussetzbar ist.

Völlig richtig, aber gerade in Baden-Württemberg sind wir Vorreiter, was diese dialogischen Formen der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern angeht. Wir haben damit sehr gute Erfahrungen auch im kommunalen Bereich gemacht. Es wird vor Ort wahrgenommen, wenn strittige Themen in der Kommunalpolitik mit einem vorgeschalteten Bürgerrat kontrovers diskutiert werden, bevor sie im Gemeinderat verbindlich entschieden werden. In fast allen, auch in den von mir durchgeführten Evaluationen zeigt sich zudem, dass die Teilnehmenden nach eigenen Angaben viel über die Mechanismen und die Komplexität von Politik gelernt haben, sich persönlich einbringen konnten, sich gehört fühlten. Weniger entscheidend war für sie, ob sie sich letztlich mit ihrer Position durchsetzen konnten. Und nicht zuletzt berichten fast alle Teilnehmenden, dass sie sich mit der Thematik intensiv auch in ihrem persönlichen Umfeld kontrovers auseinandergesetzt haben.

Das heißt also, auch dieses Format der Bürgerbeteiligung hat letzten Endes einen kommunikativen Ausstrahlungseffekt, so wie Sie es auch für den lösungsorientierten Streit formuliert haben. Man muss nicht nur Gutes tun, sondern auch darüber berichten?

So ist es. In der aktuellen Situation müssen wir alle Möglichkeiten zur konstruktiven politischen Diskussion nutzen. Das gilt für die Wahlkreissgespräche von Politikerinnen und Politikern und deren Sprechstunden für Bürgerinnen und Bürger, das gilt auch für unterschiedliche Diskurs-Formate zwischen Bürgerinnen und Bürgern. Zur Normalität der pluralistischen Demokratie gehört die Akzeptanz der unterschiedlichen, teils auch gegensätzlichen politischen Vorstellungen von Bürgerinnen und Bürgern. Und die müssen immer wieder auch untereinander verhandelt werden. Mit einer Zuschauerdemokratie werden wir nicht weit kommen.

Das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Eith!

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