Bürgerbeteiligung unter der empirischen Lupe – ein Analyseausblick

Rund 3,1 Millionen Treffer liefert Google beim Stichwort „Bürgerbeteiligung“. Ein genauerer Blick auf diese Liste zeigt schnell: Kaum eine größere deutsche Stadt, die nicht in den Suchergebnissen dabei ist. Bürgerbeteiligungskonzepte, Leitlinien, lokale Handbücher und Projektberichte sind zahlreich. Und das zumeist mit großen Versprechungen. In Zeiten vermeintlich zurückgehender Wahlbeteiligungen und einer gefühlten Politikverdrossenheit bieten sich vielfältige Formen der Beteiligung als Lösung an. Erfolgsgeschichten und Konzeptbeschreibungen stehen allerdings an erster Stelle. Zweifel, Misserfolge und Evaluationen sind dagegen deutlich seltener zu finden.

Dabei belegt ein Blick in die kritische Literatur, dass es den verschiedenen Ausprägungen der Bürgerbeteiligung in der Regel kaum gelingt, eine zusätzliche, basisdemokratische Einbindung aller Bürgerinnen und Bürger umzusetzen. So ist es fast eine Binsenwahrheit, dass politisch aktive oder zumindest sehr interessierte Bürgerinnen und Bürger in den praktizierten Beteiligungsformaten überproportional vertreten sind. Die Gefahr, dass sich arrivierte „bildungsbürgerliche“ Interessen selbst legitimieren und durchsetzen, andere Perspektiven es dagegen schwer haben, ist nicht neu. Sie ließe sich bei genauerem Hinsehen leicht belegen.

Interesse an Bürgerbeteiligung empirisch betrachtet

Doch soll das ein Grund sein, Beteiligungsverfahren zu verwerfen, sich ausschließlich auf Instrumente der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie zu verlassen? Oder müssen nicht eher innovativere Ergänzungen gesucht werden, die die angedeuteten Nachteile hinter sich lassen? Und was sagt eine empirische Bestandsaufnahme dazu? Welche weiterführenden Ansätze legt sie nahe? In der Ausgabe 2020 der regelmäßig aktualisierten Studie der Bertelsmann Stiftung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt sind wir dem nachgegangen. Der dabei entstandene Einblick kann Ausgangspunkt für neue Konzepte und Empfehlungen werden.
Die aktuelle Erhebung basiert auf einer Befragung von 3.011 Bürgerinnen und Bürgern und wurde im Februar und März 2020 durchgeführt. Sie war in gewisser Weise ein Covid-19-Opfer, denn mit dem Abschluss der Erhebung stellten sich coronabedingt auf einmal ganz andere Fragen. Dies hat dazu geführt, die Studie im Juni mit Blick auf die Corona-Ereignisse zu vertiefen und den eigentlichen Schwerpunkt zur Bürgerbeteiligung aus den Vor-Corona-Monaten 2020 zunächst erst einmal zurückzustellen. Nach der im August erfolgten Veröffentlichung zu der Frage, wie es ganz aktuell um den gesellschaftlichen Zusammenhalt unter dem Eindruck der Krankheit und ihrer Folgen steht, soll das vorhandene Material aktiviert werden. Geplant ist eine ausführliche Berichterstattung in der ersten Jahreshälfte 2021.
Doch schon jetzt möchten wir mit einem knappen Einblick das Interesse daran wecken. Dabei geht es nicht um die Detailbetrachtung absolvierter Verfahren, sondern vielmehr um die Frage, welche Bürgerinnen und Bürger sich ein aktives Ein bringen vorstellen können – oder eben nicht dafür zu gewinnen sind. Daraus sollen Profi le abgeleitet werden, denen möglicherweise ergänzend qualitativ nachgegangen werden kann.
Das Ziel sind also Hinweise zur Weiterentwicklung. Wie können Formate aussehen, die nicht nur den Ausrichtern und nur einer speziellen Bevölkerungsgruppe, sondern auch denjenigen „schmecken“ oder diejenigen inspirieren, die bisher oft nicht erreicht werden?
Gefragt haben wir zunächst recht einfach nach der potenziellen Bereitschaft, sich bei bestimmten Möglichkeiten einzubringen – und dies im Vergleich zu klassischen Formaten. Hier zeigen fast drei Viertel der Bevölkerung Bereitschaft. So können sich 73 Prozent vorstellen, zu einer Bürgerversammlung zu gehen. 70 Prozent würden im passenden Fall bei einer Unterschriftenliste zeichnen, immerhin 53 Prozent bei einer Petition. Mit Blick auf eine Demonstration signalisieren 56 Prozent Bereitschaft, mit auf die Straße zu gehen. Ein vermutlich etwas größerer Erwünschtheitseffekt zeichnet sich bei der Frage nach der Sicherheit ab, bei der nächstanstehenden Wahl seine Stimme tatsächlich abzugeben. Unter den Wahlberechtigten entscheiden sich in diesem Zusammenhang 75 Prozent für die Aussage „sehr wahrscheinlich“.

Teilnahme an Partizipationsformaten und Wahlbeteiligung

Partizipation durch Bürgerbeteiligung kaum erweitert

Werden diese Angaben miteinander kombiniert, ist die Frage interessant, ob das Viertel, das explizit eine Wahlabsicht verneint oder für weniger wahrscheinlich hält, sich stattdessen für eine der anderen Beteiligungsformen entscheiden würde. Das Ergebnis ist ein deutliches Nein. Dies legen schon einfache Verteilungsergebnisse nahe. Immerhin 13 Prozent der Bevölkerung geben bei keiner der über die Wahl hinausgehenden, hier berücksichtigten Beteiligungsformen an, sich diese für die eigene Person überhaupt vorstellen zu können. Ebenfalls 13 Prozent nennen nur eine einzige der vier Möglichkeiten. In der genaueren tatsächlichen Kombination muss das Ergebnis noch mehr ernüchtern. Weniger als ein Prozent negiert die Wahlabsicht, zeigt sich anderen Beteiligungsformaten gegenüber jedoch aufgeschlossen, wäre also auf diesem Weg zu stimulieren. Und der harte Kern der „aktiven Demokraten“, die nach eigener Angabe sehr wahrscheinlich wählen gehen und sich zusätzlich mehrere der Beteiligungsformate vorstellen können, umfasst mit 32 Prozent ziemlich genau ein Drittel der Befragten. Im Umkehrschluss gehören eben zwei Drittel nicht dazu.
Wird dieses Ergebnis anhand soziodemografischer Hintergrundfaktoren genauer ausgeleuchtet, bestätigt sich Bekanntes. Eine höhere Bildung und ein höherer ökonomischer Status sind die höchsten Treiber sowohl in Richtung Wahlbeteiligung als auch weiterer Partizipationsformen. Festgehalten werden kann allerdings auch, dass hier kein Ost-West-Unterschied besteht. Doch sollen dies nur erste Ergebnisse im Sinne des genannten „Appetizers“ mit Blick auf unsere geplanten genaueren Analysen sein.
Darüber hinaus genauer nachgefragt haben wir anhand vorgegebener Beurteilungen einzelner Beteiligungsaspekte, zu denen Zustimmung oder Ablehnung geäußert werden konnte. Dabei zeigt sich beispielsweise, dass recht genau die Hälfte der Bevölkerung Beteiligungsformate ausdrücklich begrüßt und nur eine von acht Personen diese mit dem Argument deutlich ablehnt, so etwas würde „nichts bringen“. Hinzukommen weitere Aussagen mit Blick auf die mögliche Effizienz, Teilnahmevoraussetzungen und mehr, denen wir uns widmen werden. Auch diese Inhalte werden wir differenziert analysieren und mit erklärenden Strukturvariablen verknüpfen, beispielsweise einer Stadt-Land-Differenzierung oder der Unterscheidung zwischen eher „abgehängten“ und stark prosperierenden Regionen.

Zustimmung und Ablehnung bei verschiedenen Aussagen zur Bürgerbeteiligung

Interessant, aber unbekannt

Nachdenklich stimmen muss das Ergebnis, dass knapp die Hälfte der Befragten angibt, die beschriebenen engeren Beteiligungsformate nicht oder nur teilweise zu kennen, damit also über keine Erfahrungen zu verfügen, oft nicht einmal vom Hörensagen. Hier lässt sich aller Voraussicht nach ein wirksamer Hebel finden. Innovative Beteiligungsformate sollten nicht nur so gestaltet werden, dass sie weniger Gebildete ebenso gut abholen wie Personen mit formal hoher Bildung – oder Personen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ebenso gut adressieren wie Menschen, die sich diesbezüglich keine Sorgen machen müssen. Weiterentwicklungen sollten alltäglicher und präsenter sein. Damit könnten sie zu einer selbstverständlichen Alltagserfahrung werden, mit der sich keine Schwellenängste oder Zweifel mehr verbinden. Und wenn sie außerdem kommunal, regional oder sogar darüber hinaus Nutzen er kennen lassen, könnten die in Deutschland heute noch bestehenden Hürden im demokratischen Sinn mit Blick auf alle Bevölkerungssegmente niedriger werden. Aber dazu in Kürze mehr.

Zum Weiterlesen:
Bödekler, S.: Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland. In: WZBrief Zivilengagement, April 2012
Themenseite der Bertelsmann Stiftung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt
Scholz, J.: Die Demokratie der Wenigen, Lagemaß

 

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