Wie Wählerwanderungen ermittelt werden

Das Jahr 2021 ist das Jahr der politischen Wahlen: Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen wählen ihren Landtag und die Bundestagswahl steht an. Regelmäßig werden wieder die Wählerwanderungen in den Fokus rücken.

Im Fernsehen wird zumindest bei der Bundestagswahl wieder zeitnah mit der Schließung der Wahllokale zu sehen sein, welche Partei an welche andere Stimmen verloren hat und wer zulasten welcher Partei Stimmen hinzugewonnen hat. Mit derartigen Aussagen bemüht sich der Moderator durchaus erfolgreich, die verschiedenen Diskussionsrunden mit Politikern, bereits lange vor der Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses, anzuheizen.
Das verwundert nicht. Bei Wahlen interessieren sich Politiker und die Öffentlichkeit natürlich auch dafür, wie die Wähler zwischen den Parteien gewandert sind. Wer also anders gewählt hat als bei der vorherigen Wahl, ist von Belang. Oftmals werden weitgehende Schlussfolgerungen aus diesen Wechseln gezogen. Schließlich werden diese Wanderungsströme von Experten interpretiert und daran auch die Ursachen für Verluste und Gewinne von Wählerstimmen dingfest gemacht.

„An den Wanderungsströmen werden die Ursachen für Gewinne und Verluste von Wählerstimmen festgemacht.
Doch wie werden sie eigentlich ermittelt? “

Und es stellen sich durchaus interessante Fragen, zum Beispiel nach den Motiven, die den Wanderungen zugrunde liegen: Je nachdem, zu welcher Partei gewechselt wurde, unterscheidet sich die Argumentation. Das eher schlichte amtliche Wahlergebnis wird somit – so wird suggeriert – durch weitere, ebenso unanfechtbare Befunde erweitert. Die Wählerwanderungsanalyse selbst wird dabei nicht hinterfragt, sie wird faktisch akzeptiert wie das amtliche Endergebnis.
Doch wie werden die vorgeblich so objektiven Wanderungsströme zwischen den Parteien ermittelt? Diese Frage wird natürlich nicht am Wahlabend erörtert. Da kommt es eher auf die Wirkung der nackten Zahl an, die manchen Politiker durchaus zu verunsichern vermag, wie manche Statements andeuten. Dabei handelt es sich bei der Ermittlung von Wählerwanderungen um ein durchaus komplexes Geschehen, zu dem sich vertiefende Erläuterungen lohnen.
Da ist zunächst das Wahlverhalten bei der vorherigen Wahl und natürlich das Ergebnis der neuen Wahl, sozusagen die interessierende Variable, abzubilden. Zwischen beiden haben Veränderungen der Rahmenbedingungen stattgefunden, die auch eine Bedeutung für die Wählerwanderungen zwischen den Parteien haben: Es gibt Erstwähler, die per definitionem bei der vorherigen Wahl nicht teilgenommen haben, und es gibt Wähler, die an der vorherigen Wahl zwar teilgenommen haben, nicht aber an dieser Wahl, etwa aus Unlust oder auch weil sie verstarben. Des Weiteren sind objektive Veränderungen des Wahlkörpers, insbesondere bei Landtagswahlen, zu berücksichtigen. Manche Wähler, die sich bei der vorherigen Wahl noch beteiligten, sind verzogen und nicht mehr im Bundesland ansässig. Umgekehrt sind natürlich auch Menschen in das Bundesland zugezogen, die bei der Vergleichswahl für die Analyse der Wählerwanderung fehlten.

„Die Angaben der Befragten bei Erhebungen für Wahlprognosen stimmen hochgerechnet nicht mit dem amtlichen Endergebnis der aktuellen und vorherigen Wahl überein. “

Bemerkenswert ist, dass es keine detaillierte Veröffentlichung der ARD oder des durchführenden Instituts Infratest Dimap gibt, die darstellt, wie und in welcher Weise die Wählerwanderungsanalysen durchgeführt werden. Auf der ARD-Webseite wahl.tagesschau.de finden sich allenfalls spärliche Informationen. Diese deuten darauf hin, dass im Zentrum der Wanderungsanalyse die Wahltagsbefragung steht. Das heißt, Wähler der repräsentativ ausgewählten Stimmbezirke werden am Tag der Wahl nicht nur danach gefragt, welche Partei sie aktuell gewählt haben – was nebenbei bemerkt die Grundlage für die Prognose um 18.00 Uhr ist –, sondern auch, welche Partei sie bei der vorherigen, vergleichbaren Wahl gewählt haben (Rückerinnerung).
Damit gerät der Forscher allerdings direkt ins Zentrum eines nicht unerheblichen Messproblems. Kurz gesagt besteht es darin, dass die Angaben der Befragten zu der vorherigen Wahl hochgerechnet nicht mit dem tatsächlichen Wahlergebnis übereinstimmen. Teilweise kommt es hier zu beträchtlichen Abweichungen. Aggregiert müsste im Idealfall die Angabe jeder einzelnen befragten Person zu ihrem Wahlverhalten das vorherige wie eben auch das aktuelle Ergebnis exakt wiedergeben. Dies ist aber aus unterschiedlichen Gründen nicht der Fall, wie in wegweisenden Studien der 70er Jahre unter anderem Max Kaase, Hans-Dieter Klingemann und Franz Urban Pappi nachgewiesen haben.
Das Problem liegt unter anderem in der Rückerinnerung: Entweder wollen oder können sich manche Befragte nicht erinnern, oder sie antworten in einem selbst interpretierten, sozial erwünschten Sinn und bekennen sich nicht zu ihrem tatsächlichen Wahlverhalten. Dieses Antwortverhalten betrifft auch die Frage, ob sie überhaupt an der vorherigen Wahl teilgenommen haben, also die Ermittlung der überaus wichtigen Gruppe der Nichtwähler. Eigene aktuelle Erhebungen zeigen, dass sich an dem Messproblem nichts geändert hat. Im Gegenteil, es hat sogar den Anschein, dass wie auch immer aufgefasste „sozial erwünschte“ Antworten häufiger sind als früher.
Aber das ist nur eines von mehreren Messproblemen: Das Wahlverhalten der Verzogenen kann nicht abgefragt werden, ebenso wenig wie das der Verstorbenen bei der vorherigen Wahl. Die Zugezogenen sind zwar bei der aktuellen Wahl beteiligt, nicht aber bei der vorherigen Vergleichswahl. In allen diesen Fällen muss also mit Annahmen oder Ergebnissen besonderer Analysen gearbeitet werden. Hier wäre es äußerst interessant, welche Annahmen getroffen wurden und wie sie sich auf die Fehlerwahrscheinlichkeit des Modells auswirken. Im Ergebnis müssen die genannten verschiedenen Datenlücken und die abweichenden Befragungsdaten durch einen Anpassungsalgorithmus, eine Kalibrierung, modelliert werden.
Der entscheidende Punkt dabei ist: Bei den ermittelten Wählerwanderungen handelt es sich nicht um nachprüfbare, harte Ergebnisse. Sie basieren vielmehr auf einem statistischen Erklärungsmodell, dessen Ergebnisse nur mit einer gewissen Fehlerwahrscheinlichkeit stimmen können. Darüber wird jedoch im Rahmen der Berichterstattung nicht aufgeklärt und vielmehr der Eindruck vermittelt, es handle sich um Fakten ähnlich der amtlichen Auszählung.

In den 70er Jahren endet die Diskussion
In der Bundesrepublik hat das infas-Institut die Analyse der Wählerwanderungen auf Basis von Befragungen in den 70er Jahren eingeführt. Dazu wurde rund zehn Jahre experimentiert, bis die Grundlagen in einem Artikel von Krauß/Smid offengelegt und kritisch diskutiert wurden. Offenbar war die sich daraufhin entwickelnde Diskussion die bisher letzte, die zu diesem Thema geführt wurde. Es mutet daher einigermaßen eigentümlich an, wenn die ARD in ihrer Wahlberichterstattung ohne Bezug zu bisherigen Diskussionen und ohne die Offenlegung der Grundlagen den Anschein erweckt, die ermittelten Wählerwanderungen seien nicht zu hinterfragende Befunde, über die es nur schlicht zu berichten gilt. Vielmehr wäre ein weiterer wissenschaftlicher Diskurs zu erwarten. Denn es ist mehr als unwahrscheinlich, dass 50 Jahre nach der Einführung der Analysen von Wählerströmen keine Weiterentwicklung möglich und sicherlich auch nötig wäre.

Zum Weiterlesen:
Hans-Dieter Klingemann und Franz Urban Pappi: „Die Wählerbewegung bei der Bundestagswahl am 28. September 1969“, in: PVS 11 (1970), S.111-138.
Max Kaase: „Determinanten des Wahlverhaltens in der Bundestagswahl 1969“, in: PVS 11, (1970) S. 46-110.
Fritz Krauß und Menno Smid: „Wählerwanderungsbilanzen. Ein Vergleich verschiedener Ansätze am Beispiel der Bundestagswahl 1980“ in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl) Heft 1/81, S. 83-103

 

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