Biologische Daten in der Sozialwissenschaft

Probenröhrchen in einem Labor

Befragungsdaten sind das zentrale Werkzeug der empirischen Sozialforschung. Gleichzeitig gibt es aber auch eine lange Tradition, diese Daten mit anderen Erhebungsformen zu kombinieren: ob nun Registerdaten, Dokumentenanalysen, mikrogeografische Daten oder Interviewerbeobachtungen. In den vergangenen Jahren gewinnen daher biologisch relevante Daten zunehmend an Bedeutung.
Diese dienen zum einen der Ermittlung von Gesundheitsmerkmalen (z. B. Handgreifkraft, Lungenfunktionsmessungen, SARS-CoV-2-Antikörperbestimmungen etc.). Zum anderen setzt sich auch in der Soziologie zunehmend die Erkenntnis durch, dass Genetik und soziale Umwelt nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind und bei der Untersuchung ebendieses Zusammenspiels die Sozialwissenschaften einen stärkeren Beitrag leisten sollten. Das Interesse an genetischen Informationen wächst somit auch im Rahmen von sozialwissenschaftlichen Erhebungen. Besonders spannend scheint vor diesem Hintergrund auch das noch verhältnismäßig neue Forschungsfeld der Epigenetik zu sein, das sich mit dem Einfluss der (sozialen) Umwelt auf die Aktivität bestimmter Gene beschäftigt.
infas führt bereits seit vielen Jahren Studien durch, in deren Rahmen unterschiedlichste Formen von biologischen Daten erhoben werden. Unter Berücksichtigung der besonderen forschungsethischen und datenschutzrechtlichen Anforderungen und Durchführungsvoraussetzungen kann diese Art von Daten für viele Studien einen wichtigen Mehrwert bieten.
Soll ein Studiendesign Befragungen mit der Erhebung von biologischen bzw. genetischen Daten kombinieren, sind besondere Anforderungen zu beachten. So ist vor der Durchführung solcher Studien regelmäßig das Votum einer Ethikkommission einzuholen.

„Ohne Berücksichtigung der genetischen Disposition ist der kausale Einfluss des Sozialen auf das Soziale nicht unverzerrt bestimmbar.“
(Schupp/Wagner 2010, 3)

Zu prüfen ist zudem, ob die Erhebung der biologischen Daten durch die Befragungsperson selbst bzw. einen entsprechend geschulten Interviewer erfolgen kann oder ob hierfür medizinisch ausgebildetes Personal notwendig ist. Beispiele für ersteres sind die Abgabe von Speichelproben, die Entnahme von Kapillarblut aus der Fingerkuppe oder die Durchführung von Messungen der Handgreifkraft oder des Lungenvolumens. Alle Arten von invasiven Eingriffen, wie z. B. die venöse Blutentnahme, erfordern entsprechend ausgebildetes Personal. Sowohl Interviewer als auch medizinisches Fachpersonal sind vor der Durchführung projektspezifisch zu schulen. Dies gilt auch dann, wenn die Durchführung durch die Befragungsperson selbst, aber unter Anwesenheit eines Interviewers erfolgt, damit die Durchführung möglichst standardisiert erfolgen und auf Rückfragen der Befragungspersonen adäquat geantwortet werden kann. Und auch bei Einsatz von medizinischem Personal ist zu berücksichtigen, dass sich die Durchführung im Rahmen von Befragungen bzw. Hausbesuchen durchaus von der Situation in Arztpraxen oder Kliniken unterscheidet.
Selbstverständlich ist die Teilnahme an Befragungen und damit auch die Sammlung der biologischen Daten freiwillig und setzt das Einverständnis der Teilnehmer voraus. Hierbei ist zu beachten, dass für ein informiertes Einverständnis nicht nur die Aufklärung über die Art der Daten, die Analysezwecke sowie die Formen der Speicherung und Widerrufsmöglichkeiten, sondern auch das Verstehen ebendieser Informationen notwendig ist. Insbesondere bei der Erhebung von genetischen Daten (in der Regel mittels selbst administrierter Speichelproben) drohen Erläuterungen schnell zu einem Einführungskurs in Genetik auszuufern.
Neben den datenschutzrechtlichen Anforderungen ist dabei auch im Blick zu behalten, dass die methodischen Ansprüche an die Aussagekraft von Befragungen auch für die biologischen Daten gelten und somit nicht nur eine möglichst hohe, sondern auch selektionsfreie Teilnahmebereitschaft notwendig ist. Je nach Art der zu erhebenden biologischen Daten gibt es erhebliche Unterschiede in der Komplexität der Durchführung. Erinnert man sich an die unterschiedlichen Schnelltests in der Corona-Pandemie wird deutlich, dass selbst bei einem verhältnismäßig einfachen Testverfahren eine gut verständliche Anleitung unerlässlich ist. Neben den bebilderten Anleitungen haben sich Anleitungsvideos als besonders hilfreich erwiesen. Wichtig ist dabei, dass die Anleitungen alle Durchführungsschritte und Materialien, beginnend vom Auspacken bis hin zum eventuellen Versand, umfassen.
In vielen Studien werden die biologischen Daten im Rahmen von Interviewer-administrierten Erhebungen durch oder zumindest unter Anleitung von Interviewern erhoben. Denn selbst wenn die Durchführung durch die Befragungsperson erfolgt, können die entsprechend geschulten Interviewer bei der Erklärung des Verfahrens und der Materialien unterstützen und erhöhen – nicht zuletzt durch die Möglichkeit, Rückfragen direkt in der Situation zu stellen – in der Regel auch die Teilnahmebereitschaft. Es gibt aber auch Studien, bei denen das Material per Post zugeschickt wird und die Erhebung rein selbst administriert erfolgt. Auch hier hat sich gezeigt, dass eine begleitende telefonische Erinnerung, in deren Kontext auch Fragen zur Durchführung geklärt werden können, positiv auf die Teilnahmebereitschaft wirken kann.
Während Messungen der Handgreifkraft oder der Lungenfunktion durch Interviewer innerhalb der Befragungssituation im Haushalt direkt dokumentiert und damit Teil der Befragungsdaten werden, müssen viele Arten von biologischen Proben zunächst analysiert werden. Hierfür ist die Zusammenarbeit mit medizinischen Laboren notwendig. Wie viel Zeit zwischen Entnahme und Analyse der Probe liegen kann und welche besonderen Versand- oder Lagerbedingungen gelten, hängt von der Probenart ab. Während eine Speichelprobe mithilfe von Stabilisatoren im Teströhrchen für einen längeren Zeitraum haltbar gemacht werden kann, unterliegt venös entnommenes Blut komplexeren Lagerungs- und Lieferungsansprüchen.
Auch wenn bei der Durchführung besondere Anforderungen zu berücksichtigen sind, haben die Erfahrungen in großen Bevölkerungsstudien gezeigt, dass die Kombination aus Befragungen und biologischen Daten in der Praxis umsetzbar ist. Für viele Forschungsfragen ermöglicht dies eine sinnvolle Erweiterung der Analyse-möglichkeiten und regt nicht zuletzt eine multidisziplinäre Zusammenarbeit, z. B. mit Genetikern, Gesundheitsforschern oder Psychologen, an.

Zu den Studien:

In der Zwillingsfamilienstudie TwinLife werden Befragungsdaten um verschiedene Arten von biologischen Daten ergänzt. So wurden z.B. mehrfach selbstadministrierte Speichelproben entnommen und mittels der damit erhobenen genetischen Daten das Zusammenspiel zwischen Genetik und (sozialer) Umwelt auf die Entwicklung sozialer Ungleichheit untersucht. Nähere Informationen sind auf der Studienseite zu finden: https://www.twin-life.de.

Im Rahmen der in 2021/2022 durchgeführten Studie „Corona-Monitoring – Welle 2“ (RKI-SOEP-2) wurde untersucht, wie viele Menschen bereits mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert waren, ohne es zu gemerkt zu haben, wie viele Menschen bereits geimpft sind und wie lange Antikörper im Blut nachweisbar sind. Hierzu wurden durch die Befragungspersonen auch selbstadministrierte Trockenblutproben entnommen, mit denen dann die Antikörper gegen SARS-CoV-2 bestimmt wurden (siehe Bartig et al. 2022).

Zum Weiterlesen:
Bartig, S., Brücker, H., Butschalowsky, H., et al. (2023): Corona Monitoring Nationwide (RKI-SOEP-2): Seroepidemiological Study on the Spread of SARS-CoV-2 Across Germany. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Vol. 243 (Issue 3-4), pp. 431-449.
Conley, Dalton (2009): The Promise and Challenges of Incorporating Genetic Data into Longitudinal Social Science Surveys and Research, in: Biodemography And Social Biology, Bd. 55, Nr. 2, S. 238–251.
Council, National Research (2001): Cells and Surveys, National Academies Press eBooks.
Diewald, M., Kuznetsov, D., Liu, Y. (2024): Ungleiche Lebenschancen durch das Epigenom? Zum Zusammenwirken biologischer mit sozialen Mechanismen, in: Springer eBooks, S. 1–24.
Heil, R., Seitz, S., Robienski, J., König, H. (2015): Einleitung, in: Springer eBooks, S. 7–14.
Schupp, J., Wagner, G. (2010): Zum „Warum“ und „Wie“ der Erhebung von (genetischen) „Biomarkern“ in sozialwissenschaftlichen Surveys, in: SOEPpapers On Multidisciplinary Panel Data Research.

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