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Subjektive und objektive Lebenslagen in Ost- und Westdeutschland im Vergleich.

Seit 2007 erhebt infas den ilex, einen auf subjektiven Einschätzungen zu individuellen Lebenslagen beruhenden Index. Mit dieser langen Dauer liegt eine umfassende Datengrundlage von rund 45.000 Interviews vor. Sie ermöglicht differenzierte Analysen für einzelne Bevölkerungsgruppen, aber auch genaue regionale Unterscheidungen. Damit liegt die Frage nahe, welche Antworten der ilex im Rahmen der aktuellen Debatte um ost- wie westdeutsche Befindlichkeiten geben kann – und wie berechtigt diese Trennlinie überhaupt ist.

Vorweggeschickt der Hinweis, dass die Analysen auf Basis einer Ost-West-Zuordnung der aktuellen Wohngemeinde der befragten Person erfolgen und nicht etwa anhand des regionalen Sozialisationshintergrunds. Dieser wurde im ilex-Programm nicht erhoben. Umsetzbar ist jedoch, sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zu identifizieren – und dabei mitunter mehr Annäherung und Ähnlichkeiten zu erkennen als Trennendes.

Erwartungskonform sind Niveauunterschiede in der subjektiven Lebenslage zwischen westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern. Diese sind größer als etwa Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland. Überraschend ist dabei, dass sich diese Differenzen in den knapp 20 ilex-Jahren kaum verändert haben. Zudem zeigt sich eine ausgeprägte Abhängigkeit der Befragungsergebnisse von objektiv gemessenen infrastrukturellen Merkmalen der Regionen, in denen die Befragten zu Hause sind: Die höheren Anteile „abgehängter“ Regionen in Ostdeutschland sind für einen großen Teil der unterschiedlichen subjektiven Bewertung in Ost und West verantwortlich. Wären diese Anteile gleich groß, würden sich die subjektiven Lebenslagenunterschiede deutlich reduzieren, allerdings nicht ganz verschwinden. Es blieben davon unabhängige, anders gelagerte Befindlichkeiten.

Dieser Befund wirft die Frage nach einer genaueren Beschreibung auf. Dabei helfen Differenzierung und Abwägung, denn es vermengen sich zahlreiche Perspektiven und Effekte. Generationseffekte, eine Art Ost-Migrationshintergrund – mit Fragezeichen – und in über drei Jahrzehnten vielfältig mögliche West-Ost- und Ost-West-Wanderungen verlangen mehr als ein forscherisches Schwimmen an der Oberfläche. Das einfache Ost-West-Klischee ist zu vordergründig.

Was im ilex steckt: die eigene wirtschaftliche Situation, die empfundene Zufriedenheit und Teilhabechancen

Um in die Analyse einzusteigen, soll in der Ost-West-Unterscheidung zunächst vorgestellt werden, welche zentralen Merkmale im ilex zusammengefasst werden. Sie zeigen, welche Antworten der Befragten höhere oder niedrigere Werte auf der Lebenslagenskala nach sich ziehen. Die verwendeten Merkmale sind durchweg subjektiv geprägte Indikatoren. Sie umfassen die eigene Teilhabeeinschätzung, die Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation, eine Einordnung der individuellen Möglichkeiten in verschiedenen Lebensbereichen im Vergleich zu anderen Personen sowie die Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In den Blick genommen wird also ein Bündel aus Merkmalen, deren Ausprägungen möglicherweise stark vom individuellen Umfeld in Relation zu anderen Milieus oder Bevölkerungsgruppen beeinflusst werden. Teilhabe und empfundene Chancengleichheit sind dabei wichtige Stichworte.

Für die erste Abbildung wurden zentrale Merkmale ausgewählt. Dabei sind die ostdeutschen Werte fast durchweg niedriger als ihre westdeutschen Pendants. Dies gilt für das Teilhabegefühl wie für Einschätzungen zur aktuellen bzw. künftigen wirtschaftlichen und persönlichen Lage. Die Unterschiede sind nicht beträchtlich, aber weitgehend systematisch. Nur bei der Einschätzung der früheren persönlichen wirtschaftlichen Lage sowie der hohen Selbsteinstufung auf einer Oben-unten-Skala bezogen auf den eigenen gesellschaftlichen Status sind die Anteile annähernd gleich.

Balkendiagramm mit der Überschrift "Ausgewählte Ilex-Merkmale im Vergleich: Im Osten oft ungünstiger empfunden". Verglichen werden Werte für Ost- und Westdeutschland. telefonische Befragung, n= 41.637 ohne Berlin, Quelle: ilex-Erhebungen 2007-2024

Anteile der Lebenslagensegmente in Ost und West dauerhaft unterschiedlich

Die im ilex subsumierten Merkmale lassen sich gruppieren und im Zeitverlauf betrachten. So können die drei Lebenslagensegmente niedrig, mittel und hoch gebildet werden. Anhand der Relationen zwischen diesen können die Ost-West-Unterschiede robust im Zeitverlauf verfolgt werden. Dabei zeigt sich eine bemerkenswerte Stabilität. In Westdeutschland fällt das obere Segment durchweg größer aus, das niedrige immer kleiner als in Ostdeutschland. Noch bemerkenswerter ist, dass sich keine Annäherung über den Zeitverlauf erkennen lässt. Die Abstände bleiben weitgehend erstaunlich stabil. Allenfalls kann ein leichter Trend zugunsten der oberen Lebenslagengruppe festgehalten werden, jedoch in West und Ost gleichermaßen.

Dieses beiderseitige kleine Plus ändert allerdings nichts an dem Befund, dass in Westdeutschland das hohe Lebenslagensegment dauerhaft größer ausfällt als das untere Segment und es sich in den ostdeutschen Bundesländern ebenso stabil umgekehrt verhält. Zwar dominiert in Ost wie West die Mitte, aber den augenfälligsten Unterschied machen die unterschiedlich großen Ränder aus.

Balkendiagramm mit dem Titel: "Lebenslagen in Ost und West 2007 bis 2024: Hohe Stabilität, keine Annäherung". Drei Gruppierungen, 2007 bis 2014, 2015 bis 2019 und 2020-2024, jeweils mit Balken für Ost und West. Telefonische Befragung n=41.637 (Ohne Berlin), Quelle: ilex-Erhebungen 2007-2024.

Unabhängige Kennwerte der Lebenslagensegmente aus dem soziodemografischen Bereich

Dies führt zu der Frage, wie sich die Lebenslagensegmente soziodemografisch zusammensetzen. Werden ausgewählte Merkmale wie Alter und Lebensphase, die Haushalts- und Beschäftigungssituation sowie das Bildungsniveau, die Religionszugehörigkeit und einige weitere Merkmale als Indikatoren herangezogen, zeigen sich folgende Ergebnisse:

  • In Sachen Alter unterscheiden sich Ost und West bezüglich der Lebenslagensegmente nicht. Das Durchschnittsalter liegt im unteren wie im mittleren Segment bei etwa 52 Jahren. Im oberen Segment rangiert es rund zwei Jahre darunter – jeweils ohne deutliche Veränderungen im Zeitverlauf, bis auf einen über die Jahre leichten Altersanstieg in der obersten Gruppe.
  • Hinsichtlich Haushaltstyp und Lebensphase sind entlang der Ost-West-Linie innerhalb der ilex-Segmente ebenfalls keine bedeutsamen Unterschiede zu erkennen. Seniorenhaushalte liegen in allen drei Gruppen anteilig stets im Bereich zwischen 25 und 30 Prozent, Personen in Haushalten mit Kindern bei etwa 25 Prozent. Reine Erwachsenenhaushalte über 30 und unter 65 Jahren rangieren durchweg bei einem Drittel. Noch jüngere Haushalte liegen ebenso einheitlich bei rund einem Zehntel – im Westen eher bei einem Anteil von 12 und im Osten von acht Prozent, ein Effekt der abwanderungsbedingten Verschiebung der Altersstruktur in Ostdeutschland.
  • Der Anteil Erwerbstätiger in den Lebenslagengruppen gleicht sich in Ost und West ebenfalls. Vom unteren bis zum höchsten Lebenslagensegment wächst er hier wie dort im Zeitverlauf von einem 50-Prozent- auf einen 66-Prozent-Wert.
  • In Sachen Bildung zeigen sich mit höherem Lebenslagensegment in den west- wie den ostdeutschen Bundesländern steigende Anteile formal hoher Bildungsabschlüsse. So beträgt deren Anteil in der niedrigen Lebenslagengruppe in beiden Ost und West etwa 15 Prozent, in der hohen dagegen rund 50 Prozent.
  • Gegenläufig sieht es in Ost wie West im mittleren und unteren Lebenslagensegment aus. Hier fallen die Anteile formal niedriger Bildungsabschlüsse im Westen höher aus – in älteren Kohorten allerdings aufgrund der verschiedenen Schulsysteme mit eingeschränkter Vergleichbarkeit.
  • Auch eine wie auch immer ausgeprägte Religionszugehörigkeit liefert einen signifikanten Erklärungsbeitrag zur Ausprägung des ilex. Dies gilt trotz unterschiedlicher Bekenntnisanteile für Ost wie West. Der Abstand zwischen Befragten mit und denen ohne Religionszugehörigkeit beträgt in West- wie Ostdeutschland zwei ilex-Punkte.
  • Weiterhin sind Unterschiede zu verzeichnen, wenn der ökonomische Status als individuelles Merkmal herangezogen wird. Diesen bilden wir anhand eines gruppierten Pro-Kopf-Haushaltsäquivalenzeinkommens. Hier zeigt sich in Westdeutschland eine höhere Abhängigkeit zwischen guter Lebenslage und guter ökonomischer Situation als in Ostdeutschland. Allerdings nicht ausgeprägt: Im hohen Lebenslagensegment fallen im Westen 30 Prozent der Befragten in die höchste von drei ökonomischen Gruppen, im Osten sind es 24 Prozent.

Diese deskriptive Darstellung bestätigt sich in einer multivariaten Überprüfung in einem Regressionsmodell. Alter, Bildung, Tätigkeit, Haushaltsstatus und Familienbindung, eine konfessionelle Zugehörigkeit sowie die ökonomische Situation erklären in West wie Ost rund 20 Prozent der Varianz im Lebenslagenindex. Die stärkste Erklärungskraft hat dabei die ökonomische Lage knapp vor dem Bildungsniveau, gefolgt von einer familiären Einbindung und mit etwas Abstand dem (niedrigeren) Alter. In der Erklärungskraft schwächer erweisen sich das Geschlecht, ein Migrationshintergrund und die politische Einstellung. Unter dem Strich wird deutlich, dass subjektive Lebenslagen nach dem ilex-Konstrukt nicht unerheblich, aber auch nicht in dominierendem Maß von den herangezogenen soziodemografischen Faktoren abhängen – weder in den „alten“ noch in den „neuen“ Bundesländern. Es müssen also weitere Erklärungen gesucht werden, um die Niveauunterschiede zwischen Ost und West in der Lebenslagenempfindung zu verstehen.

Subjektive Lebenslagen sind auch von objektiven Umfeldbedingungen abhängig

Wird die subjektive Lebenslageneinstufung durch den ilex im Kontext objektiver Infrastrukturmerkmale betrachtet, sind Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland mehr als augenfällig. Vor allem in ostdeutschen Ländern zeigt sich ein deutliches Gefälle, wie die Abbildung zur Infrastrukturklassifikation zeigt. In den infrastrukturell am schlechtesten dastehenden Gebieten fällt auch der Lebenslagenindex gering aus. In Ostdeutschland fällt ein Drittel der in diesen Regionen (gekennzeichnet mit – -) Befragten in das untere Lebenslagensegment. Und in der zweiten Infrastrukturstufe von unten (-) ist es ein Viertel. In Westdeutschland ergeben sich hier nur Anteile von rund einem Fünftel.

Säulendiagramm mit der Überschrift: "Lebenslagengruppen nach Infrastrukturklassifikation: West- und Ostdeutschland vor allem in benachteiligten Regionen unterschiedlich". Je fünf Säulen für Ost und West. Skala für Infrastrukturklassifikation von "sehr stark abgehängt" bis "sehr gut aufgestellt". Einordnung je Säule in "hohe Lebenslage", "mittlere Lebenslage" und "niedrige Lebenslage". Telefonische Befragung n=41.673 (ohne Berlin), Quelle: ilex-Erhebungen 2007-2024.

Um diese Auswertungen vornehmen zu können, wurde der Grad der „Abgehängtheit“ deutscher Kommunen, Landkreise und kreisfreier Städte ermittelt. Er reicht von sehr stark abgehängten (- -) bis hin zu sehr gut aufgestellten (++) Gemeinden. In die Klassifikation fließen drei eigens gebildete Teil-Dimensionen (Nahversorgungs- und ÖPNV-Qualität sowie Kaufkraft je Einwohner) ein. Die Nahversorgungsqualität umfasst die Erreichbarkeit von Geschäften der Grundversorgung, die gesundheitliche Versorgung sowie die Nähe von Bildungseinrichtungen. Das Ergebnis wird auf Gemeindeebene in den folgenden Karten dargestellt. Je heller ein Gebiet eingefärbt ist, desto weniger abgehängt ist eine Kommune.

Kartendarstellung mit dem Titel: "ilex nach Kreisen und kreisfreien Städten: niedrige (subjektive) Wahrnehmung in Ostdeutschland". Fünfstufige Skala von "sehr schlecht" bis "überdurchschnittlich gut". Einfärbung der Kreise und kreisfreien Städte entsprechend. Kartengrundlage: Kreise und Landesgrenzen (VG200) am 31.12.2020 GeoBasis-De / BKG 2023. Quelle: Corona-Datenplattform, eigene Auswertung.

Zur Orientierung haben wir neben dieser Kartendarstellung die zusammengefassten ilex-Ergebnisse der Jahre 2007 bis 2024 ebenfalls kartografisch abgebildet. Hier wurde das höhere räumliche Aggregat nach Landkreisen und kreisfreien Städten gewählt, da die ilex-Fallzahlen keine flächendeckende Unterscheidung nach Gemeinden ermöglichen. Nach Landkreisen beträgt die verfügbare Mindestfallzahl jedoch 50 Interviews pro Gebiet, was eine zumindest näherungsweise Einordnung erlaubt.

Kartendarstellung mit dem Titel: "Regionale Abgehängtheit nach Gemeinden: (objektiv) ebenfalls schlechter in Ostdeutschland". Fünfstufige Skala für den "Grad der Abgehängtheit" von "sehr" bis "gar nicht". Einfärbung der Kreise und kreisfreien Städte entsprechend. Kartengrundlage: GeoBasis-DE / BKG (2020). Quelle: infas/ infas 360.

Beide Kennwerte weisen das beschriebene West-Ost-Gefälle auf. Zwar gibt es dunkel eingefärbte Gebiete jeweils in Ost- wie Westdeutschland, aber das schlechtere Abschneiden der fünf ostdeutschen Länder ist in beiden Karten eindeutig. Wird die bereits vorgestellte multivariate Analyse zu Erklärungsfaktoren für die ilex-Ausprägungen anhand soziodemografischer Variablen in einem Modell verbunden, das regionale Indikatoren wie etwa die „Abgehängtheit“ einbezieht, bestätigt sich der Zusammenhang zwischen beiden Dimensionen. Sie vergrößern die Erklärungskraft, insbesondere in Ostdeutschland. Allerdings verbleibt weiterhin eine bedeutsame nicht aufgeklärte Restvarianz. Es sind also noch immer weitere Faktoren im Spiel.

Zwei Kreisdiagramme. Titel: "Bevölkerung in Ost und West nach Infrastrukturklassifikation: Deutlich andere Verhältnisse - "dunkler" in Ostdeutschland". Je ein Kreisdiagramm für Ost und West. Skala von "sehr stark abgehängt" (dunkel) bis "sehr gut aufgestellt" (hell). n=41.637 (ohne Berlin), telefonische Befragung. Quelle: ilex-Erhebungen 2007-2024.

In der Versorgung eher abgehängt in Ostdeutschland: die Folgen und ein Experiment

Die Kartendarstellungen der regionalen Lebensqualität bzw. der Verteilung „abgehängter“ Kommunen verdeutlichen, dass der Osten hinsichtlich der ausgewählten Merkmale weniger gut abschneidet als der Westen. Dies bestätigt sich, wenn den ilex-Befragten die regionale Lebensqualität ihres Wohnorts zugeordnet und die sich ergebende Relation der fünf Infrastrukturstufen in Ost- und Westdeutschland auf der Befragtenebene verglichen wird. Während in den ostdeutschen Ländern über 50 Prozent der Befragten in eine der beiden unteren Infrastruktursegmente fallen, sind es in Westdeutschland gerade einmal 15 Prozent. Umgekehrt zählt dort die Hälfte der Bevölkerung zu den beiden besten Infrastrukturtypen. In Ostdeutschland sind es nur 13 Prozent (alle Zuordnungen weiterhin ohne Berlin).
Angeregt durch dieses Ergebnis kann in einer Art Lebenslagenexperiment unterstellt werden, dass die ungünstigeren ostdeutschen ilex-Ergebnisse auch auf diese objektiven Strukturunterschiede bzw. ausgeprägtere Abgehängtheit zurückzuführen sind. Würde rechnerisch eine Gleichverteilung der Infrastrukturtypen hergestellt werden, also in Ostdeutschland quasi eine daten-experimentelle Niveauregulierung der infrastrukturellen Versorgung erhalten, ergäbe sich im Mittel ein ilex-Plus von etwa 2,5 Punkten auf der 100er-ilex-Skala. Der Vorsprung von Westdeutschland von rund fünf Indexpunkten wäre halbiert und die ganzzahlig gerundeten West-Ost-Mittelwerte im ilex lägen bei 59 und 57 statt 59 und 55. Die daraus mit aller Vorsicht ablesbare Botschaft wäre eine doppelte: Die Infrastrukturunterschiede sind nicht folgenlos und für einen Teil der in Ostdeutschland subjektiv schlechter empfundenen Teilhabe verantwortlich, aber eben nicht vollständig. Bei einer Angleichung verbliebe ein zwar kleinerer, jedoch nach wie vor signifikanter Unterschied.
Auch die Ergebnisse der Regressionsanalyse unter Kontrolle der Regionstypen spiegeln dies wider. Signifikante, erklärungskräftige individuelle Variablen wie etwa das Bildungsniveau, die ökonomische Situation oder die familiäre Einbindung der Befragten haben einen Einfluss unabhängig von der objektiv gemessenen regionalen Abgehängtheit des Ortes, in dem jemand wohnt. Da die Regression mit einer Varianzerklärung von etwa 20 Prozent eine – wie dargestellt – zwar gute, aber nicht hervorragende Aufklärung zeigt, ergeben sich drei Schlussfolgerungen:

  • Soziodemografie und ökonomischer Wohlstand entscheiden über subjektive Lebenslagen und Teilhabe mit, sind aber nicht alles.
  • Regionale Strukturnachteile beeinflussen besonders in Ostdeutschland die subjektive Lebenslage, sind aber ebenfalls nicht alleinverantwortlich für ein diesbezüglich schlechteres Abschneiden.
  • Trotz der so umrissenen Erklärungsbeiträge muss also nach weiteren Faktoren gesucht werden, die den ilex prägen, insbesondere in Ostdeutschland. Diese wirken voraussichtlich sowohl inhaltlich als auch im Zeitverlauf relativ stabil. Dafür spricht das vorgestellte Ergebnis der im ilex nicht vollzogenen Annäherung von West und Ost.

ilex-Werte und Struktur von Ost und West sind nach Stadt-Land-Regionstypen ebenfalls unterschiedlich

Die inhaltliche Klassifizierung nach dem Grad der „Abgehängtheit“ ist ein Faktor. Ein weiterer sind Ost-West-Unterschiede hinsichtlich des Verhältnisses zwischen formal städtischen und ländlichen Räumen. Dies soll zur Abrundung ebenfalls kurz betrachtet werden. Die Stadt-Land-Unterscheidung kann zum Beispiel anhand einer Unterteilung nach der 5er-Klassifikation der regionalstatistischen RegioStaR-Einteilung veranschaulicht werden.
Die entsprechende Darstellung zeigt die Bevölkerungsanteile in den jeweiligen Typen in Ost- wie Westdeutschland. Im Linienverlauf sind die ilex-Mittelwerte hinzugefügt. Hier zeigen sich im Ost-West-Blick für die städtischen Räume nur sehr geringe ilex-Unterschiede. Erst im eher ländlichen Raum werden diese signifikant. Anteilig leben in Ostdeutschland dort mehr Bürgerinnen und Bürger als in Westdeutschland. Somit kann hier das angedachte Angleichungsexperiment wiederholt werden. Mit dem ähnlichen Ergebnis, dass ein Teil der ilex-Differenz auf diesen Strukturunterschied zurückzuführen ist.

Säulen- und Punktdiagramm. Titel: "Lebenslagenindex und Bevölkerungsanteile in Gemeindetypen im Ost-West-Vergleich: Unterschiede für die ländlichen Räume". X-Achse: fünf Typen von Gemeindetypen, y-Achse: Prozentangaben. Säulen stellen Bevölkerungsanteile in Ost und West dar, Punkte den ilex-Wert "Lebenslage". telefonische Befragung, n= 41.637 (ohne Berlin), Quelle: ilex-Erhebungen 2007-2024.

Schlussfolgerungen, notwendige Relativierungen und Gedanken zu weiteren Analysen

Steffen Mau vermutet in seiner jüngsten Veröffentlichung „Ungleich vereint“ hinsichtlich weiterhin vielfältig feststellbarer Ost-West-Unterschiede mehrere interagierende Mechanismen. Dazu rechnet er langfristig wirksame sozialisationsbedingte Mentalitäts- und Erfahrungunterschiede, eine in Ostdeutschland zu geringe Bereitschaft, sich mit den Wirkungen der DDR-Vergangenheit und eigener Verantwortung bzw. Lebensgeschichte auseinanderzusetzen sowie angesichts vielfältiger Herausforderungen mit und nach der Wiedervereinigung wachsende Veränderungsängste nicht nur, aber insbesondere „im Osten“. Daraus entsteht seiner Einschätzung nach ein schwer zu überwindender und noch lange wirksamer Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland.
Die hier bisher vorgestellten Ergebnisse weisen ebenfalls in diese Richtung. Der Lebenslagenindex fällt in den von ihm abgedeckten knapp zwei Jahrzehnten im Osten stets niedriger aus. Zudem verringert sich die so vermessene Lücke nicht. Einerseits. Andererseits sind soziale Strukturen immer vielschichtig, bei aller Stabilität auch dynamisch und nicht in allen Facetten prognostizierbar. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien daher an dieser Stelle einige Weiterführungen genannt:

  • Ist die Ost-West-Unterscheidung überhaupt die richtige Perspektive? Zwar fallen Unterschiede entlang dieser Trennlinie – wie einangs erwähnt – größer aus als etwa eine Nord-Süd-Unterscheidung. Doch wie gezeigt, sind sie zumindest teilweise auf infrastrukturelle Benachteiligungen und siedlungsstrukturelle Voraussetzungen zurückzuführen.
  • Gleichzeitig wird es in West wie Ost gleichermaßen prosperierende Regionen geben, die sich in ihrer Situation mehr gleichen als die durchschnittlichen Ergebnisse nahe legen – und damit auch die aus Konstrukten wie dem ilex. Vermutlich kann zum Beispiel die Stadt Jena eine solche „Ost-Ausnahme“ darstellen.
  • Die Ost-West-Differenzierung ist auch deshalb schwierig, weil in den mehr als 30 Jahren nach der Wiedervereinigung zahlreiche Binnenwanderungen stattgefunden haben – und dies nicht nur in eine Richtung und einmalig, sondern für zumindest einige Bürgerinnen und Bürger gewissermaßen in einem „Hin und Her“. Damit entstehen vielfältige und analytisch zu unterscheidende Erfahrungs-Muster, die sich einer einfachen Ost-West-Unterscheidung entziehen. Der hier im Artikel verfolgte Ansatz des Wohnortprinzips ist damit nur einer von mehreren möglichen Zugängen. Zu untersuchen wäre auch eine Art „Ost-Migrationshintergrund“, also in Ostdeutschland die Unterscheidung zwischen Befragten, deren Eltern und/oder sie selbst in diesen Bundesländern zu DDR-Zeiten oder kurz darauf aufgewachsen sind oder sich eine solche Prägung zuschreiben. Dies wird bereits in einigen Publikationen begonnen.
  • Die Wanderungen führen nicht nur zu einem komplexen Erfahrungs-Mix, sondern auch zu einem schlicht höheren Anteil älterer Bürgerinnen und Bürger vor allem in den ländlichen und „abgehängten“ Gebieten Ostdeutschlands. Dieser wird sich ebenfalls auf die Bewertungen auswirken.
  • Über das Alter hinaus gehören dazu auch strukturelle Unterschiede, die sich aus weiteren spezifischen Wanderungen ergeben, etwa beim Geschlecht oder der Bildung.
  • Schließlich steht, mit Blick auf Steffen Maus analytisch anregende These einer Verfestigung der Unterschiede, die Frage im Raum, wie sich die Entwicklung fortsetzt. Bleibt die im ilex dokumentierte Stabilität ohne eine wirkliche Annäherung oder reduziert sich der beobachtete Abstand doch (noch)?

Zusammengefasst und einen Schritt zurückgetreten stellt sich so die Frage, wie bedeutsam die Unterschiede am Ende tatsächlich sind. Bei allen Analysen rund um die Differenzen sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass vielleicht mehr gleich als unterschiedlich ist. Auch dies wäre einer Analyse wert.

Zum Weiterlesen:
Mau, S. (2024): Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Suhrkamp Verlag.
Heller, A., Dilling, M., Kiess, J., Brähler, E. (2022): Autoritarismus im sozioökonomischen Kontext. Eine Mehrebenenanalyse zur regionalen Verteilung autoritärer Einstellungen in Deutschland. In: Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismusstudie 2022, herausgegeben von Decker, O., Kiess, J., Heller, J. und Brähler, E., Gießen, Psychosozialer Verlag 2022, S. 161 – 184.
Foroutan, F., Simon, M. und Zajak, S. (2023): Wer ist hier eigentlich ostdeutsch, und wenn ja, wie viele? Zur Konstruktion, Wirkungsmacht und Implikation von Ostidentitäten, DeZIM Research Notes #15, Oktober 2023.
Daten zum infas-Lebenslagenindex:
www.infas.de/lebenslagenindex

 

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